Missing Link: Vom Tiananmen-Massaker zur Netzzensur und digitalen Massenüberwachung in China

Seite 3: Pichai und Cook erklären sich

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Konzernmanager aus dem Silicon Valley begründen ihre Kooperationsbemühungen mit dem chinesischen Regime immer damit, den Nutzern vor Ort doch zumindest mit ihren Produkten etwas mehr Spielraum und einen Hauch von mehr Freiheit zu verschaffen. Bei Tests an Dragonfly habe sich herausgestellt, dass über 99 Prozent der Nutzeranfragen beantwortet werden könnten, freute sich etwa Google-Chef Sundar Pichai im Oktober. Damit werde es möglich, die Verfügbarkeit von Informationen für chinesische User in "vielen, vielen Bereichen" wie etwa zu Krebstherapien zu verbessern.

Die Initiative liege voll auf der Linie des kalifornischen Unternehmens, den ganzen Globus mit der Basis für mehr Wissen versorgen zu wollen, führte Pichai aus. China mache immerhin 20 Prozent der Weltbevölkerung aus. Beim Markteintritt in jedem Land gehe es aber natürlich darum, verschiedene Wertvorstellungen etwa rund um den Zugang zu Informationen, die Meinungsfreiheit oder den Datenschutz auszubalancieren.

Ähnlich äußerte sich wiederholt Apple-Chef Tim Cook. Es sei im Interesse chinesischer Nutzer, dass der iPhone-Bauer im chinesischen Markt präsent bleibe, betont er gerne. Die Kalifornier tauschten sich regelmäßig aus mit Regierungen, "auch wenn wir anderer Meinung sind". Die lokalen Gesetze müsse man letztlich aber überall auf der Welt befolgen. Auch Facebook hat eine Partnerschaft mit einer Firma in der chinesischen Metropole Shenzhen geschlossen, um zumindest für Werbung auf der Plattform ein Standbein vor Ort zu haben.

Die zahlreichen Kompromisse rund um Grundwerte, die westliche Internetfirmen machen müssen für den Markteintritt im Reich der Mitte, sind für den "Firewall-Experten" Griffiths ein Grund dafür, besser die Finger von solchen Projekten zu lassen. Wer sich einmal darauf einlasse, sei vermutlich auch bereit, immer mehr Zugeständnisse in Richtung Zensur zu machen und lasse sich in einen Teufelskreis drängen, befürchtet der Buchautor. Dass Firmenmitarbeiter, die davon Kenntnis hätten, etwa im Fall Dragonfly lautstark protestierten, sei in diesem Sinne verständlich.

Mittlerweile ist China offenbar auch dabei, Zensur zu exportieren. Der IT-Sicherheitsexperte Nicholas Weaver und Forscher des kanadischen Citizen Lab stießen bei der Analyse zweier verteilter Angriffe auf eine mächtige Cyberwaffe gestoßen, die sie in Anklang an die "Great Firewall" "Great Cannon" tauften. Diese soll unter anderem im März 2015 für eine massive DDoS-Attacke auf die Plattform Github verantwortlich gewesen sein und es vor allem auf zwei dort gehostete Antizensurprojekte der Organisation GreatFire.org abgesehen gehabt haben.

Laut dem Untersuchungsbericht kann über die "große Kanone" zunächst wie bei einem überdimensionierter Man-in-the-Middle-Angriff selektiv bösartiger JavaScript-Code etwa in Suchanfragen und Anzeigen der chinesischen Google-Alternative Baidu eingefügt werden. So ließen sich enorme Mengen an Datenverkehr zu den Zielen der Kanone umleiten und diese so quasi abschießen. Durch gezielte Anfragen an betroffene Server gelang es den Forscher, das Verhalten des Instruments zu analysieren und Einblicke in dessen Innenleben zu erhalten.

Nicht alle Beobachter schließen sich der Schlussfolgerung der Forscher an, dass China hinter der Online-Kanone steckt. Einige verweisen auch darauf, dass die NSA sowie ihr britisches Geheimdienstpendant GCHQ Meister in der Entwicklung solcher Angriffswerkzeuge seien und auch die CIA diese einsetze und nicht immer unter voller Kontrolle habe. Eine dieser Organisationen hätte die DDoS-Attacken so auch ausführen, falsche Spuren gelegt und die Schuld auf Peking geschoben haben können. Für Weaver ist das aber wenig stichhaltig, da die Angreifer die Kanone im Github-Fall auch noch lange hätten pulvern lassen, nachdem Gegenmaßnahmen gegriffen hatten. Es habe sich so anscheinend um eine öffentliche Machtdemonstration des chinesischen Staats im Cyberraum gehandelt.

Zur Internetzensur ist spätestens nach den Tiananmen-Protesten ein übergreifendes System zur Überwachung der Bevölkerung im Reich des Drachen gekommen. Die Kommunistische Partei sei zwar schon seit Langem bemüht gewesen, die Massen auszuspähen, schreibt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Nach dem Zweiten Weltkrieg haben der Staat und die Partei sich demnach auf Werkzeuge zum Informationssammeln und für die soziale Kontrolle verlassen wie die Danwei-Arbeitseinheiten, das Hukou-Melderegister oder die als "Dang’an" bezeichneten geheimen Polizeidateien. Die Informationstechnik war aber erst um die Jahrtausendwende soweit fortgeschritten, dass sie eine systematisch Überwachung erlaubte.

Generell erheben Ämter in China eine große Bandbreite an persönlichen Informationen über die Bevölkerung. Diese reichen von politischen Ansichten über das alltägliche Verhalten bis hin zu Informationen über die Geburtenkontrolle bei Frauen. Die Daten werden mit der Ausweisnummer der Betroffenen verknüpft, die als eine eindeutige Personenkennziffer fungiert. Auskunftsrechte für die Bürger über die erhobenen Bestände gibt es keine.

Im Zuge der seit 1979 erfolgenden vorsichtigen Marktöffnung und parallelen Migrationsbewegungen erwiesen sich die angestammten Praktiken als zunehmend wirkungslos. Die Demokratiebewegung von 1989 im Jahr des hiesigen Mauerfalls ließ bei der KP dann endgültig das Bewusstsein reifen, dass sie die Überwachung einer zunehmend mobilen und aufbegehrenden Bevölkerung erhöhen und ausweiten müsse. Andere Trends wie die Verbreitung des Internets, die Globalisierung, ein an Einkünften aus der boomenden Wirtschaft teilhabender Staat sowie die wachsenden digitalen Fußabdrücke der Nutzer digitaler Techniken ließen das Interesse der Behörden weiter wachsen, umfassende Technologien für die soziale Kontrolle zu entwickeln.

Das Ministerium für öffentliche Sicherheit gestaltete so Anfang der 2000er-Jahre seine geheimdienstliche Infrastruktur zum Datensammeln um mit dem Ziel, die "Informationsdominanz" über gesellschaftliche Umtriebe zu erreichen und Kriminalität gezielter zu bekämpfen. Das Ressort startete das Projekt "Goldener Schild" im Bestreben, ein nationales Netzwerk an "Informationsarterien" aller Polizeikräfte, integrierten Datenplattformen mit Geheimdiensten sowie Kommandozentren für die künftige Big-Data-Analyse voranzutreiben.

2003 übernahm das Ministerium das Modell einer von geheimdienstlicher Aufklärung geprägten Polizeiarbeit, das Großbritannien in ähnlicher Form schon in den 1990ern eingeführt hatte. Es basiert auf dem "nahtlosen Informationsaustausch" zwischen strategischen Entscheidern, operativen Kräften und Einsatzbeamten im Feld und gilt als eine Vorstufe für die noch stärker datengetriebene "vorausschauende Polizeiarbeit" ("Predictive Policing") mit einer Schwerpunktverlagerung hin schon zur Prävention möglicher Verbrechen.

2008 gaben die Olympischen Spiele in Peking dem Staat eine weitere Möglichkeit, seine Agenda zur technisch gesteuerten Massenüberwachung auszubauen. Die KP erachtet zunehmend die "Aufrechterhaltung der Stabilität" als eines ihrer Hauptbestreben und wendet enorme finanzielle und personelle Ressourcen für die Sicherheitsbehörden auf, damit diese insbesondere Dissidenten ausspähen, möglichen Protesten frühzeitig auf die Spur kommen, die Telekommunikation und die Bewegungen der Bürger überwachen und das Internet zensieren können.