Missing Link: Vom Tiananmen-Massaker zur Netzzensur und digitalen Massenüberwachung in China

Vom Niederknüppeln der Proteste in Peking vor 30 Jahren führt in China eine konsequente Linie zur "großen Firewall", zu Online-Zensur und Social Credit.

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Missing Link: Vom Tiananmen-Massaker zur Netzzensur und digitalen Massenüberwachung in China

(Bild: pixabay.com)

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Der Großteil der Welt gedachte am Dienstag öffentlich dem 30. Jahrestag des blutigen Endes des überwiegend friedvollen Kampfs tausender chinesischer Studenten für mehr Demokratie und Freiheit auf dem Tiananmen-Platz in Peking. Mehrere tausend überwiegend junge Bürger hatten den zentralen Versammlungsort 1989 im Frühjahr zu Glasnost-Zeiten in der befreundeten Sowjetunion einige Wochen lang besetzt und unter anderem gegen die politischen und personellen Folgen der von Mao Zedong losgetretenen Kulturrevolution demonstriert. Die Regierung unter Deng Xiaoping hatte lange darüber gebrütet, wie sie auf die massiven Proteste reagieren sollte. Letztlich setzten sich die Hardliner der Kommunistischen Partei (KP) durch.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Die angespannte Stimmung kippte Anfang Juni, als das Regime schier aus allen Landesteilen Truppen zusammenzog und mit Panzern ins Zentrum der Hauptstadt lotste. Aus Depeschen der US-Botschaft, die Wikileaks veröffentlicht hat, geht hervor, dass die Menge versuchte, das Militär noch vor dem "Platz des Himmlischen Friedens" zu stoppen und Fahrzeuge der Streitkräfte sowie der Polizei anzugreifen. Studenten hätten erbeutete Waffen und militärische Ausrüstung zur Schau gestellt, heißt es in den Drahtberichten für Washington. Im Rahmen der Rangeleien sei es in der hitzigen Stimmung am Nachmittag des 3. Juni auch zu einem ersten "begrenzten Angriff mit Tränengas" gekommen.

In den frühen Morgenstunden des 4. Juni erreichte der Großteil der herbeigeorderten Soldaten schließlich die Gegend rund um den Platz und machte Anstalten, diesen gewaltsam zu räumen. Den Autoren der Depeschen zufolge, die sich auf Augenzeugen vor Ort berufen, hatten die Studenten Müll und Zeltreste zumindest auf ein gepanzertes Fahrzeug geworfen und in Flammen gesetzt. Mindestens ein Bus habe ebenfalls gebrannt. Truppen und Einsatzkräfte der Polizei sollen vor allem am Tiananmen-Südende positioniert gewesen und zudem von westlicher Seite aus angerückt sein.

Aus chinesischen Geheimdokumenten geht anderen Berichten nach hervor, Deng Xiaoping selbst habe Order gegeben, dass es auf dem Friedensplatz selbst kein Blutvergießen geben dürfe. Das vorgerückte Truppenkommando soll den verbliebenen rund 3000 Studenten einen Korridor für den Abzug zum Südrand hin eröffnet haben. Ein UPI-Korrespondent wird mit der Angabe zitiert: "Die Soldaten feuerten über unsere Köpfe, um uns Angst zu machen." Dies deckt sich mit den US-Botschaftsmeldungen, die von Luftschüssen und Flammenwerfern sprechen.

Auf den Straßen und Kreuzungen rund um den Tiananmen zeigte die Staatsmacht dann weniger Zurückhaltung und die gewalttätigen Auseinandersetzungen sowie das Blutbad nahm dort seinen Lauf. Die chinesische Regierung erklärte Ende Juni 1989, beim Niederschlagen der "konterrevolutionären Aufstände" seien 200 Zivilisten und mehrere Dutzend Sicherheitskräfte getötet worden. Menschenrechtsorganisationen schließen nicht aus, dass es insgesamt mehrere tausend Tote gegeben hat. Tausende Demonstranten landeten zudem in Gefängnissen oder Arbeitslagern.

Der chinesische Verteidigungsminister Wei Fenghe erklärte kurz vor dem Jahrestag auf einer Sicherheitskonferenz in Singapur, es habe sich um politische Unruhen gehandelt, die der Staat habe bezwingen müssen. Wegen dieser Linie "ist China stabil". Es sei ihm nicht begreiflich, wieso Peking noch immer mit dem Vorwurf konfrontiert werde, "den Vorfall nicht korrekt gehandhabt zu haben".

Im kollektiven Gedächtnis des Westens sind vor allem Fotos und Videoaufnahmen eines namenlosen Mannes haften geblieben, der sich mit Taschen und Tüten in den Händen am 5. Juni auf einer sonst weitgehend menschenleeren, recht breiten Straße am Rande des Platzes einem Panzerkonvoi entgegenstellte. Als das erste schwere Militärfahrzeug um ihn herumfahren will, springt er diesem immer wieder vor die Haubitze. Schließlich steigt er auf das schwere Gefährt und spricht über eine Luke mit den Insassen. Kaum ist er abgestiegen, geht das Katz-und-Maus-Spiel von vorne los, bis ihn von der Seite kommende Zivilisten unterhaken und in beschützender Manier wegdrängen.

Das weitere Schicksal des "Panzermanns" ist ungeklärt. US-Berichten zufolge handelte es sich um einen Studenten, der kurz nach dem Vorfall hingerichtet worden sein soll. Laut anderen Einschätzungen könnte es sich auch um einen empörten Bürger gehandelt haben, der seinen spontanen Auftritt gegenüber der "Volksbefreiungsarmee" überlebt habe und in der Anonymität der Masse untergetaucht sei. Ein Bild einer "Panzerformation" aus Gummi-Enten schaffte es voriges Jahr sogar als Erinnerung an das zu vielen Projektionen für den Freiheitskampf einladende Geschehen in die chinesischen sozialen Medien. Es dauerte aber nicht lange, bis es gelöscht war.

Direkt am 30. Jahrestag des Massakers herrschten laut Agenturberichten am Platz des Himmlischen Friedens "verschärfte Sicherheitsvorkehrungen". Polizisten kontrollierten demnach Autos auf Zufahrtsstraßen, auf Fußwegen mussten sich Passanten ausweisen: "Ein großes Aufgebot an Sicherheitskräften in Uniform und zivil sollte jedes öffentliche Gedenken sofort im Keim ersticken." Bis heute unterbindet es Peking, dass die Ereignisse offen aufgearbeitet und Hinterbliebene der Getöteten entschädigt werden. Nur in der früheren britischen Kronkolonie Hongkong darf der Opfer noch gedacht werden – unter erschwerten Umständen: auch dort kann es vorkommen, dass ein dafür extra eingerichtetes Museum Feuer fängt.

Parallel zog die chinesische Regierung schon im Vorfeld des totgeschwiegenen Tages die Daumenschrauben bei der umfassenden Internetzensur noch einmal an. Bereits seit Ende April war die Online-Enzyklopädie Wikipedia in allen Sprachversionen über die "große Firewall" des Landes gesperrt, nachdem der Bann zuvor "nur" zahlreiche Artikel auf Chinesisch getroffen hatte. Ohnehin nicht zugänglich sind im Reich der Mitte Dienste wie Facebook, Google nebst YouTube, Twitter, Skype oder WhatsApp, die für viele westliche Nutzer den Alltag im Netz prägen. Nachrichtenportale wie die Seiten der "New York Times", des "Wall Street Journals" oder chinakritische Blogs und Informationsquellen bleiben ebenfalls regelmäßig im Filter hängen.

Neugierige, politisch Interessierte, Aktivisten oder Mitarbeiter westlicher Firmen in China versuchen in der Regel über Anonymisierungsdienste wie Tor oder Virtual Private Networks (VPN) die Sperren zu umgehen und eine Tunnelverbindung ins offene Internet zu knüpfen. Gerade vor wichtigen politischen Ereignissen oder "heiklen" Gedenktagen gehen die Behörden aber verstärkt gegen solche verschlüsselten Leitungen nach außen vor und stören einschlägige Dienste massiv.

Rund um den 4. Juni brach bei vielen chinesischen Online-Angeboten zudem wieder der große, oft länger dauernde "Wartungstag" aus. Dieses wiederkehrende Phänomen besagt, dass nicht nur etwa Livestreaming-Seiten, sondern auch zahlreiche kleinere Webdienste mit nutzergenerierten Inhalten aus "technischen" Gründen mehr oder weniger freiwillig offline gehen. Die Betreiber wollen damit von vornherein vermeiden, dass Dritte dort Inhalte posten, die den Zorn der Behörden auf sich ziehen könnten. Andere Dienste schränken über Tage hinweg die Möglichkeit ein, etwa Profilbilder oder Statusnachrichten zu ändern.