NetzDG-Fälle: "Impfen macht frei" und Verweise auf Judensterne sind zulässig

Die Selbstkontrolle FSM musste sich 2021 mit deutlich mehr kniffligen NetzDG-Fällen beschäftigen. Es ging vor allem um Beleidigung und Agitation.

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Eine Faust ergreiuft ein Mikrofon

(Bild: Anton Eine, gemeinfrei (Creative Commons CC0))

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Die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM) hat zum zweiten Mal Bilanz über die Arbeit ihres Prüfausschusses gezogen. Er beurteilt besonders knifflige Fälle im Bereich der grundgesetzlich geschützten Meinungsäußerung auf Basis des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG). Insgesamt hatte das externe Expertengremium im vorigen Jahr deutlich mehr zu tun als 2020: Betreiber großer sozialer Netzwerke brachten 72 Anliegen vor, während es im Vorjahr erst 23 waren.

28 der Fälle bewerten die Ausschussmitglieder 2021 als rechtswidrig – 20 mehr als 2020. YouTube, Facebook & Co. haben die entsprechenden Inhalte vereinbarungsgemäß entfernt. Erneut mussten sich die Prüfer mit einigen kontrovers diskutierten juristischen Fragestellungen auseinandersetzen – überwiegend zu den Straftatbeständen der Beleidigung, Volksverhetzung und übler Nachrede. Alle Entscheidungen veröffentlicht die FSM auf ihrer NetzDG-Seite.

Vor allem seit der Debatte über eine allgemeine Impfpflicht tauchen laut der Selbstkontrolleinrichtung Eingaben von Nutzern auf, da wiederholt Vergleiche mit Handlungen unter der Herrschaft des Nationalsozialismus (NS) gepostet werden. Diese Fälle bewerteten die Sachverständigen etwa unter dem Aspekt der Holocaustverharmlosung nach Paragraf 130 Absatz 3 Strafgesetzbuch (StGB).

Eine einschlägige Beschwerde zielte auf Kommentare zu einer Pressekonferenz Anfang November mit dem damals noch amtierenden Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und dem Präsidenten des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, zur "Dritten Impfung". Zu einer Videoaufzeichnung davon merkte ein Nutzer an: "Ich sehe wie die Wagons geöffnet werden und es wieder so wird wie vor 75 Jahren. Dann werde ich einsteigen mit erhobenen Haupt" (sic). Unter Videos zum gleichen Thema hinterließen User Kommentare wie "Impfen macht frei" und verwiesen auf die drohende Markierung Ungeimpfter mit gelben Judensternen.

Solche Äußerungen befinden sich nach Ansicht der Prüfer gerade noch innerhalb der Grenzen der Meinungsfreiheit. Der NS-Völkermord werde damit nicht in strafbarer Weise verharmlost. "Der Frust wesentlicher Teile der Bevölkerung entlädt sich durch geschmacklose und skrupellose Vergleiche mit der NS-Zeit", schreibt das Gremium. Es fehle aber an der "konkreten Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens".

Durchgehen ließen die Juristen auch ein Video einer rechtsgerichteten Splitterpartei. Diese darf demnach weiter in einem Wahlwerbespot für die Europawahl 2019 eine 90-jährige "Spitzenkandidatin" vorstellen, die wegen Holocaustleugnung seit 2018 politische Gefangene sei. Die strafbare Handlung werde zwischen den Zeilen "zwar erkennbar gutgeheißen", an sich aber nicht thematisiert, lautet die Begründung.

Abrufbar bleibt auch ein umstrittenes Musikvideo einer Rapperin. Darin getätigte Äußerungen wie "Ich will Politiker töten und die Schulsysteme stürzen" und "Ich box Alice Weidel quer durchs Gesicht und nenn das genderspezifische Gesellschaftskritik" stellen dieser Entscheidung zufolge "keine Aufforderung zu rechtswidrigen Taten" dar. Zum einen gäben sie "nur eine Eigenmotivation" wieder, nicht jedoch eine Aufforderung, dem gleichzutun. Die erste Ansage sei zudem zu unbestimmt und lediglich als allgemeine, fraglos gesellschaftlich und moralisch zu missbilligende, Tatfantasie zu qualifizieren. Zum anderen seien derartige Liedtexte im Sinne eines "Diss" seit jeher Stilmittel des Rap und trotz ihres fragwürdigen Inhalts zusätzlich von der Kunstfreiheit umfasst.

Die rote Linie überschritten sahen die Prüfer dagegen bei Kommentaren zu einem Video der polizeilichen Festnahme einer älteren Dame in Kempten mit der Überschrift "Lockdown-Jagdszenen aus dem Allgäu: Söders Corona-Schergen vergreifen sich an Oma mit Hund!" Aufgebrachte Nutzer beklagten darunter: "Das ist keine Polizei mehr, sondern eher Abschaum" sowie "Das sind gewaltbereite antifaschistische Schläger. Und so einen Abschaum duldet der Oberboss der Polizei Kempten unkonsequent."

Dabei handle es sich zwar nicht um eine inakzeptable Schmähkritik, aber um eine Formalbeleidigung im verfassungsrechtlichen Sinne, fand der angerufene Ausschuss. Mehrfach ist in der Kommentarspalte zudem von "Gesockse" die Rede. Diese Kritik sei zwar stark zugespitzt, erklärten die Sachverständigen dazu, aber noch durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit gerechtfertigt.

In einem anderen Videobeitrag, mit dem sich das Gremium beschäftigte, wird am Beispiel von drei jungen, namentlich genannten Bundespolizisten die Weiterbildung zu Bereitschaftskräften mit Schlagstockeinsatz dargestellt. Der daruntergesetzte Randbemerkung "Neo Nazis in Uniform" ist dem Spruch nach ebenfalls rechtswidrig.

Hier greife der Straftatbestand der Beleidigung aus Paragraf 185 (StGB), erläutern die Prüfer. Die zum Ausdruck gebrachte Ablehnung der Polizei und das damit verknüpfte Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht stelle sich "als Angriff auf die Menschenwürde, als Formalbeleidung oder Schmähung" dar. Es stehe "die Diffamierung der Person im Vordergrund", es bleibe nicht bei zulässiger Kollektivbeleidigung. Auch eine überspitzte Kritik an bekannt gewordenen Fällen von Rechtsextremismus in der Polizei sei nicht erkennbar.

Als strafbar erachteten die Experten ferner den Einbau einer Videosequenz aus einer Überwachungskamera in einen eigenen Zusammenschnitt an Szenen, die den Tritt des Berliner "U-Bahn-Treters" in den Rücken einer offenbar beliebig ausgewählten Frau zeigt. Durch die Unterlegung der Videosequenz mit der Tonschleife "This is Sparta!" aus der Comicverfilmung "300" werde die beschriebene unmenschliche Gewalttat schon losgelöst vom übrigen Inhalt des Videos verharmlost, führen sie aus. Das ursprüngliche Fahndungsvideo verkomme durch die Einbindung in die "Compilation" zu einem "bloßen Internet-Joke".

Nach dem NetzDG müssen Betreiber großer Plattformen für nutzergenerierte Inhalte offensichtlich strafbare Beiträge innerhalb von 24 Stunden löschen. Die Entscheidung über komplexe Fälle, bei denen die potenzielle Rechtswidrigkeit schwer zu bewerten ist, können Anbieter seit bald zwei Jahren zunächst an die FSM weiterleiten.

(ds)