Soziale Unruhen: Digitalgesetz ermöglicht laut EU-Kommissar Social-Media-Sperre
TikTok, Twitter & Co. können auf Basis des Digital Services Act komplett blockiert werden, wenn sie nicht gegen Gewaltaufrufe vorgehen, behauptet Breton.
Die EU-Kommission kann den Zugang zu sozialen Netzwerken wie TikTok, Twitter, Facebook, Instagram, YouTube und Snapchat auf Grundlage des Digital Services Act (DSA) vollständig sperren lassen, wenn die Betreiber nicht gegen rechtswidrige Inhalte bei sozialen Unruhen vorgehen. Dies kündigte Binnenmarktkommissar Thierry Breton am Montag an. In einem Interview mit dem französischen Nachrichtensender France Info hob er hervor: "Wenn es hasserfüllte Inhalte gibt, Inhalte, die beispielsweise zum Aufstand oder zum Töten aufrufen […], sind die Plattformen verpflichtet, diese zu löschen. Wenn sie dies nicht tun, werden sie sofort sanktioniert."
"Wir haben Teams, die sofort eingreifen können", untermauerte der Franzose seine Ansage in dem Gespräch. Wenn die Verantwortlichen nicht sofort handelten, "dann ja, dann können wir nicht nur eine Geldstrafe verhängen, sondern auch den Betrieb" der Plattformen "auf unserem Territorium verbieten".
Breton reagierte damit auf Äußerungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Dieser erklärte vorige Woche bei einem Treffen mit Bürgermeistern nach den gewalttätigen Aufständen in Teilen des Landes infolge des tödlichen Schusses eines Polizisten auf einen 17-Jährigen in einer Pariser Vorstadt: "Wir müssen über die Nutzung dieser Netzwerke durch die Jugend nachdenken" und dabei auch Verbote ins Auge fassen. Social Media veränderte "die Art und Weise, wie junge Menschen mit der Realität umgehen". Die Politik sollte notfalls in der Lage sein, die Plattformen scharf zu sanktionieren oder den Zugang zu ihnen "abzuschneiden". Dies dürfe zwar nicht im Eifer des Gefechts geschehen: "Aber es ist eine Debatte, die wir führen müssen, wenn sich die Dinge abkühlen."
In Frankreich zog Macron umgehend Kritik auf sich, er propagiere Zensurmaßnahmen, die sonst vor allem in autoritären Staaten wie China und Iran beobachtet würden. Auch Bretons Lesart des DSA überrascht. Behörden aller Art können damit Host-Providern zwar künftig ohne Richtervorbehalt grenzüberschreitende Anordnungen schicken, um gegen illegale Inhalte wie strafbare Hasskommentare, Darstellungen sexuellen Kindesmissbrauchs oder die unautorisierte Nutzung urheberrechtlich geschützter Werke vorzugehen. Betroffene Plattformen müssen solche Angebote dann ohne unangemessene Verzögerung sperren oder blockieren und bei schweren Straftaten zudem der Polizei melden.
Bedrohungen begrenzen
Von einer "Abschaltung" ganzer Plattformen in der EU war offen bislang aber keine Rede als potenzielles Sanktionsmittel. Klar ist: Im Fall von Krisen wie Kriegen und Pandemien, von denen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder die menschliche Gesundheit ausgeht, kann die Kommission sehr große Plattformen etwa auffordern, dringende Bedrohungen auf ihren Portalen zu begrenzen. Diese spezifischen Maßnahmen sind auf drei Monate begrenzt. Die Kommission wird prinzipiell zentrale Aufsicht über die speziell für sehr große Plattformen geltenden Vorschriften führen, um einen "Durchsetzungsstau" in einzelnen EU-Ländern zu verhindern.
Die Brüsseler Regierungsinstitution hat bereits 19 sehr große Online-Plattformen mit über 45 Millionen Nutzern in der EU inklusive TikTok, Instagram und Twitter bestimmt, für die vom 25. August an besonders strenge Vorschriften rund um die Verbreitung illegaler und schädlicher Inhalte gelten. Plattformen müssen der Kommission bis dahin eine erste detaillierte Bewertung ihrer größten Risiken für die Nutzer vorlegen. Es drohen sonst Bußgelder von bis zu 6 Prozent ihres weltweiten Umsatzes. Breton kündigte an, dass die Kommission nächste Woche einen einschlägigen "Stresstest" bei TikTok durchführen werde. Dabei soll geprüft werden, ob der Betreiber bereit ist, die neuen Vorgaben einzuhalten. Bei Twitter ließ sich Breton jüngst über den Stand der Dinge informieren, Meta soll ebenfalls noch in diesem Monat dran sein.
Der EU-Abgeordnete Patrick Breyer hatte schon bei der prinzipiellen Einigung der Gesetzgebungsgremien auf den DSA moniert: "Die freie Meinungsäußerung im Netz wird nicht vor fehleranfälligen Zensurmaschinen (Upload-Filter), willkürlicher Plattformzensur sowie grenzüberschreitenden Löschanordnungen aus illiberalen Mitgliedsstaaten ohne Richterbeschluss geschützt, sodass völlig legale Berichte und Informationen gelöscht werden können." Industrie- und Regierungsinteressen hätten sich gegen digitale Bürgerrechte durchgesetzt.
(olb)