US-Klage: TikTok-Management hat bewusst Gefahren der App ignoriert

Geleakte interne Mitteilungen von TikTok zeigen erstmals, dass die Betreiber ihnen bekannte Gefahren der App fĂĽr den Jugendschutz lange weitgehend ignorierten.

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(Bild: XanderSt/Shutterstock.com)

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Mit schweren VorwĂĽrfen untermauerten 14 US-Bundesstaaten am Dienstag ihre Klagen gegen TikTok wegen mangelndem Jugendschutz: Der Ableger des chinesischen Konzerns ByteDance habe "wissentlich unsere jungen Menschen ausgebeutet. FĂĽr Profit", betonte etwa Kaliforniens Justizminister und Generalstaatsanwalt Rob Bonta.

Mittlerweile ist durch eine Panne deutlich geworden, worauf die Staaten ihre scharfe Anklage bauen. Ein versehentlich publik gewordener interner Kommunikationsaustausch von TikTok legt erstmals nahe, dass der Betreiber ihm bekannte Gefahren der Video-App fĂĽr den Jugendschutz weitgehend ignorierte und umstrittene manipulative Funktionen trotzdem startete.

Das vertrauliche Material war laut einem Bericht des öffentlichen US-Rundfunksenders NPR Teil einer über zwei Jahre dauernden Untersuchung gegen TikTok durch die Generalstaatsanwälte. Die Staaten argumentieren, das Multimilliarden-Dollar-Unternehmen habe die Öffentlichkeit über Risiken getäuscht. In jeder der einzelnen Klageschriften, die die staatlichen Regulierungsbehörden einreichten, waren Dutzende interner Mitteilungen, Dokumente und Forschungsdaten geschwärzt. Die Staatsanwälte hatten vorher Vertraulichkeitsvereinbarungen mit TikTok abgeschlossen.

In einer der Einreichungen vor Gericht, die von der Generalstaatsanwaltschaft von Kentucky stammt, waren die Schwärzungen aber fehlerhaft. Dem Sender Kentucky Public Radio gelang es daher, Auszüge des vermeintlich unkenntlich gemachten Materials einfach per Copy & Paste zu enttarnen und so zirka 30 Seiten ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen.

Redakteure von NPR überprüften nach eigenen Angaben alle redigierten Teile der Klage, in denen TikTok-Führungskräfte sich offen über eine Reihe von Gefahren für Kinder und Jugendliche auf der in diesen Altersgruppen besonders beliebten App austauschten. Bei dem brisanten Material handelt es sich demnach hauptsächlich um Zusammenfassungen interner Studien und Mitteilungen. Sie sollen zeigen, dass einige Abhilfemaßnahmen wie Zeitmanagement-Tools nur zu einer kaum nennenswerten Reduzierung der Bildschirmzeit führen würden. Das Unternehmen entschied sich dennoch, die Funktionen einzuführen und zu bewerben.

TikTok hat laut den Unterlagen die genaue Anzahl der Aufrufe ermittelt, die nötig sind, bis der Personalisierungsalgorithmus massiv Wirkung zeigt und der Einsatz der Anwendung zur Gewohnheit wird: 260 Videos sollen es sein. Danach "wird ein Nutzer wahrscheinlich süchtig nach der Plattform", stellen die staatlichen Ermittler fest. "Das mag zwar beträchtlich erscheinen, aber TikTok-Videos können nur 8 Sekunden lang sein und werden den Zuschauern automatisch in schneller Folge abgespielt." Nach dieser Formel entwickelt ein durchschnittlicher User in weniger als 35 Minuten Suchtgefühle.

Eigene Forschungen von TikTok besagen zudem, dass "zwanghafte Nutzung mit einer Reihe von negativen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit korreliert, wie etwa dem Verlust analytischer Fähigkeiten, der Gedächtnisbildung, des kontextuellen Denkens, der Gesprächstiefe, der Empathie und erhöhter Angst."

Ferner zeigen die Dokumente, dass der Betreiber sich bewusst war, dass "zwanghafte Nutzung auch wesentliche persönliche Verpflichtungen wie ausreichend Schlaf, Arbeits-/Schulpflichten und den Kontakt zu geliebten Menschen beeinträchtigt". Bekannt ist TikTok auch, dass Inhalte, die Essstörungen fördern ("Thinspiration"), mit Problemen wie Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper, Essstörungen, geringem Selbstwertgefühl und Depressionen in Verbindung gebracht werden.

Nachdem Kentucky Public Radio Auszüge des redigierten Materials veröffentlichte, versiegelte und verschloss ein Richter eines US-Bundesgerichts die gesamte Beschwerde auf Ersuchen der Generalstaatsanwaltschaft. Dieser Schritt soll sicherstellen, dass nicht noch mehr "Vergleichsdokumente und damit zusammenhängende Informationen, vertrauliche Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse und andere geschützte Informationen unrechtmäßig verbreitet werden", heißt es in einem Eilantrag auf Geheimhaltung der Beschwerde. Diesen stellten Behördenvertreter in Kentucky am Mittwoch. Ein TikTok-Sprecher verteidigte die bestehenden Kinderschutzvorkehrungen des Unternehmens und verurteilte die Veröffentlichungen.

In Europa verhängte die britische Regulierungsbehörde Ofcom im Juli eine Millionenstrafe gegen TikTok wegen Fehler bei Auskünften zum Jugendschutz. In der EU gilt der Plattformbetreiber als "Torwächter" und muss die strengsten Verpflichtungen nach dem Digital Services Act (DSA) einhalten. Im April setzte der Konzern die Belohnungsfunktionen in TikTok Lite "freiwillig" aus, nachdem die EU-Kommission ein verschärftes Vorgehen gegen das entsprechende Programm angedroht hatte.

(usz)