​Überlebenskampf im Boom​ des chinesischen Automarkts

Chinas Automarkt schwingt sich zu nie gekannten Höhen auf. Trotzdem kämpfen die Hersteller mit enormen Herausforderungen. Wer jetzt zögert, ist raus.​

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Nio ET9

(Bild: Nio)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Christian Domke Seidel
Inhaltsverzeichnis

Chinas Automarkt läuft gerade heiß. 30 Millionen Neufahrzeuge (davon 26 Millionen Pkw) wurden im Jahr 2023 verkauft. Rekord! Die bisherige Höchstmarke von 29 Millionen Fahrzeugen stammt noch aus dem Jahr 2017. Dennoch kämpfen viele Hersteller gerade um ihre Zukunft. Denn das Wachstum basiert vor allem auf dem Boom der New-Energy-Vehicle (NEV). Viele Hersteller tun sich schwer, mit diesen Modellen Gewinne zu erwirtschaften. Mittendrin in diesen Umwälzungen ist der Volkswagen-Konzern. Mit Milliardeninvestitionen ringt er gerade um Anschluss auf dem weltweit wichtigsten Automarkt.

Chinas Automarkt wuchs im Jahr 2023 um insgesamt 12 Prozent. Das ist deswegen erstaunlich, weil das Land in einer Wirtschaftskrise steckt. Zwar auf sehr hohem Niveau, doch die massiven Corona-Lockdowns und das Platzen der Immobilien-Blase haben ihren Tribut gefordert. Das BIP wuchs im Jahr 2023 um fünf Prozent, für 2024 werden 4,5 Prozent erwartet. Die Chinesen konsumieren aus Angst um die finanzielle Zukunft etwas vorsichtiger. Dass der Automarkt dennoch zweistellig wachsen und eine neue Rekordmarke aufstellen konnte, lag an der Mobilitätswende in China. Der Markt für die Verbrenner sei um sechs Prozent gesunken, der für E-Autos um 23 Prozent angestiegen, der für NEV (hier werden Hybrid-Varianten mitgerechnet) sogar um 38 Prozent, rechnet zumindest der Passagierwagenverband CPCA vor.

Li Auto weiß, was chinesische Kunden wollen – zum Beispiel Karaoke-Funktion – und hat mit seinen Premium-SUV Erfolg.

(Bild: Li Auto)

Die beeindruckenden Wachstumsraten dieser Segmente basieren einerseits auf dem etwas geringerem Ausgangsniveau – noch sind etwas mehr als 60 Prozent der Neuwagen in China Verbrenner. Zum anderen an einer massiven Rabattschlacht, die sich die Hersteller in der Volksrepublik liefern. Im Jahr 2023 sind die Autopreise durchschnittlich um 8,9 Prozent gefallen – eine vergleichbare Kostensenkung in der Lieferkette gab es allerdings nicht.

"Im neuen Jahr wird sich entscheiden, wer die Gewinner und wer die Verlierer sind, wer überleben und wer sterben wird", prognostizierte Liu Luochuan in der Caixin Global sehr martialisch. Er ist Direktor des Forschungszentrums für strategische Entwicklung bei Dongfeng Motor. Seine Ansage basiert darauf, dass E-Autos immer wichtiger werden, die sich aber – so seine Berechnung – erst bei einem jährlichen Absatz von etwa 500.000 Stück lohnen würden. Darunter seien die Skaleneffekte zu gering.

Diese Marktbereinigung ist von der Kommunistischen Partei gewollt. Sie wollte einen starken Industriezweig, der auf dem globalen Markt nicht nur wettbewerbsfähig ist, sondern zu den Technologieführern gehört. Marken wie BYD, Li Auto, NIO und Xpeng zeigen, dass das bereits der Fall ist. Jetzt folgt die Umstellung von einem subventionsgetriebenem zu einem marktgetriebenen Modell. Einziges Problem: In China gibt es etwa 300 E-Auto-Marken. Viele von ihnen habe keine funktionierende Produktion, andere sind nur leere Hüllen mit Produktionslizenz. Nur etwa ein Drittel davon hat überhaupt jemals Autos verkauft. "In diesem stark fragmentierten Markt sind fast alle Unternehmen verschuldet und machen Verluste. Sie werden teilweise künstlich durch Kaufprämien und Subventionen lokaler Regierungen am Leben erhalten", analysiert Gregor Sebastian in einem Interview mit dem Fachportal Table Media. Zum Zeitpunkt des Gesprächs ist Sebastian noch Analyst beim Mercator Institute for China Studies (MERICS). Seit Ende 2023 ist er Senior Analyst bei Rhodium.

Mittendrin in diesem Überlebenskampf ist Nio. Das Unternehmen, das auch schon in Deutschland vertreten ist, wird als chinesisches Tesla betrachtet. Die Fahrzeuge sind innovativ, das Design und die Verarbeitung nobel. Doch nach dem frühen Hype kehrt langsam Ernüchterung ein. Der Börsenkurs ist auf Talfahrt und die Verluste werden nicht kleiner. Allein in den ersten drei Quartalen 2023 betrugen sie 2,2 Milliarden Euro. Bei etwa 115.000 verkauften Autos in diesem Zeitraum ist das ein Verlust von rund 19.000 Euro pro Auto.

Der Nio ET9 ist das neue Flaggschiff (5,3 Meter lang). Allerdings sind es die kleinen Fahrzeuge, die Nio auf Kurs bringen sollen. Die Marken Firefly und Alps sollen demnächst auf den Markt kommen.

(Bild: Nio)

Ende des Jahres gab das Unternehmen bekannt, sich von zehn Prozent seiner Mitarbeiter zu trennen – also rund 3000 Beschäftigte. Auch Investitionen, die mittelfristig keine Gewinne versprechen, stünden vor dem Aus. Dazu gehört neben der Batteriesparte auch das geplante eigene Smartphone. Doch es gibt auch gute Nachrichten bei Nio. Denn den Verlusten steht ein halbwegs sicheres Finanzpolster gegenüber. CYVN, der Staatsfonds aus Abu Dhabi, schoss Ende 2023 noch einmal 2,2 Milliarden Dollar in das Unternehmen und besitzt damit 20 Prozent der Anteile. Derart aufmunitioniert hat Nio die Gründung zweier neuer Marken verkündet. "Alps" und "Firefly". Unter diesen Namen möchte der Hersteller zukünftig günstige Einstiegsmodelle verkaufen. Während die "Glühwürmchen" nach Europa kommen sollen, werden die Alps für China produziert.

Möglich wird diese Offensive, weil Nio seit dem 4. Dezember 2023 eine offizielle Herstellerlizenz der Regierung hat. Die Partei vergibt nur äußerst zurückhaltend die Erlaubnis, Autos zu bauen. Einerseits, weil eine Marktbereinigung angestrebt wird, andererseits, um Überkapazitäten zu vermeiden. Bislang hat die Jianghuai Automobile Group (JAC) die Nio-Modelle gefertigt. Nur einen Tag nach Erteilung der Lizenz hat Nio den Kauf zweier JAC-Fabriken in Hefei für umgerechnet 410 Millionen Euro bekannt gegeben. Auf über elf Quadratkilometern soll ein eigener Produktionskomplex entstehen, in dem jährlich eine Million Autos vom Band rollen können. Durch die Übernahme der Fabriken erwartet sich Nio eine Senkung der Produktionskosten um zehn Prozent. Mögliche Skaleneffekte sind dabei noch nicht einkalkuliert.

Li Xiang weiß um die Dynamik des Marktes. Er ist Gründer und CEO von Li Auto. Er prophezeite, dass es in China nur Platz für fünf große Anbieter von E-Autos und NEV geben würde. Mit BYD, Huawei und Tesla stünden drei dieser Marken schon fest. Es sei also nur noch Platz für zwei. Einer davon soll nach Möglichkeit an sein Unternehmen gehen.

Dieses Selbstbewusstsein zieht er aus den Geschäftszahlen des vergangenen Jahres. Zwar verkaufte die Marke lediglich 376.000 Autos (also weniger als die erwähnte Marke von einer halben Million Stück), doch waren das satte 182 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Ein Momentum, das Li gedenkt fortzuführen. "Unser Ziel ist es, im Jahr 2024 gemessen am Absatz die Nummer eins unter den Premiumautomarken in China zu werden." Dafür müsste die Marke in diesem Jahr das selbstgesteckte Ziel von 800.000 Auslieferungen erreichen. Li möchte BMW, Audi und Mercedes überholen.

Chinesen setzen die Größe eines Fahrzeugs mit Qualität gleich. Der L9 von Li Auto ist 5,2 Meter lang.

(Bild: Li Auto)

Ganz unrealistisch ist dieses Ziel nicht. Die bisherigen Zahlen erreichte Li Auto mit gerade einmal drei Modellen – L9, L8 (Nachfolger des One) und L7. Allesamt große SUV mit Elektroantrieb und Range Extender. Für 2024 sind zwei neue Modelle in der Pipeline. Zum einen der L6, der das Portfolio nach unten abrunden soll. Wobei das relativ ist. Mit über 4,90 Metern Länge ist das kürzeste SUV von Li Auto so lang wie ein BMW X5. Zum anderen mit dem Mega. Dabei handelt es sich um einen rein elektrischen Van, der das Flaggschiff der Marke werden soll. Kostenpunkt: etwa 80.000 Euro.

Volkswagen ist von den Umwälzungen auf Chinas Automarkt natürlich in allen Bereichen betroffen, schließlich bietet der Konzern (anders als Li Auto und Nio) sowohl Verbrenner als auch Elektroautos an, und das mit Erfolg. Die Wolfsburger haben im Jahr 2023 3,2 Millionen Autos verkauft, 200.000 davon waren Elektroautos. Im schrumpfenden Segment der Verbrenner konnte VW seinen Marktanteil sogar von 19 auf 20 Prozent erhöhen.

Die anstehende Transformation kann VW also (noch) aus einer Position der Stärke heraus angehen. Vom Sparpaket sind die chinesischen Niederlassungen nicht betroffen. Im Gegenteil. Der Konzern baut seinen Produktions-, Entwicklungs- und Innovations-Hub in Hefei massiv aus. Bis 2026 soll hier die Volkswagen China Technology Company (VCTC) eine Elektro-Plattform für das Einstiegssegment entwickeln. Ziel ist es, die Entwicklungszeit für neue Modelle auf 36 Monate zu verkürzen, um so schnell auf die Kundenwünsche in der Volksrepublik reagieren zu können. Die neue Elektroplattform soll dabei ähnlich flexibel sein, wie das bisherige System für Verbrenner.

Thomas Ulbrich hat die Aufgabe, das Potenzial, dass in den diversen Übernahmen und Beteiligungen steckt, endlich zu heben. VW möchte (und muss) fitter für die Zukunft werden.

(Bild: Volkswagen)

Volkswagen ist in China enorm breit aufgestellt und hat viel Geld in Zukunftsprojekte investiert. Neben den bekannten Joint Ventures (SAIC Volkswagen, FAW-Volkswagen und Volkswagen Anhui) gehören dazu auch die Softwareeinheit Cariad, der Batteriehersteller Gotion sowie Horizon Robotics (autonomes Fahren), ARK (User Experience) und Thundersoft (Infotainment). Schnelle Hilfe verspricht auch die VW-Beteiligung bei Xpeng. Für 700 Millionen Dollar hat VW 4,99 Prozent der Aktien gekauft und einen Sitz im Aufsichtsrat erhalten. Außerdem gibt es eine Vereinbarung, zwei neue Elektroautos für den chinesischen Markt gemeinsam zu entwickeln.

Um all diese Unternehmen unter einen Hut zu bringen, die Entwicklungen zu beschleunigen und Synergien zu nutzen, hat VW jüngst Thomas Ulbrich die Leitung der technischen Entwicklung in China übertragen und ihn zum CEO von VCTC gemacht. Am 1. April 2024 beginnt sein neuer Job. Ulbrich war vorher Vorstand "New Mobility" und gilt als Entwicklungs- und Softwareexperte mit Hausmacht. Die Prozesse und Geschwindigkeiten, die in China Innovationen erlauben, sollen auch als Blaupause dienen, um Europa voranzubringen.

(fpi)