Zahlen, bitte! 3,4 % Coronavirus-Fallsterblichkeit, eine "false Number"? Etwas Pandemie-Statistik

Seite 2: Extreme Heterogenität – oder Definitions-Chaos ...

Inhaltsverzeichnis

Das Durcheinander in Bezug auf die Spanische Grippe wäre nicht weiter schlimm, ist ja lange her – nur setzt sich das Definitions-Chaos bis heute weiter fort. Wissenschaftler beklagen schon lange dieses mit "extremer Heterogenität" umschriebene Chaos und untersuchten beispielsweise systematisch die Ergebnisse von 50 Studien mit 77 Schätzungen zum Grippevirus 2009. Diese lagen zwischen 1 bis 10.000 Toten pro 100.000 Fällen (Case fatality risk of influenza A(H1N1pdm09): a systematic review). Oft ist gar nicht eindeutig klar, auf welchen Grundlagen die Werte beruhen. Und selbst wenn, gibt es noch große methodische Unterschiede. Wissenschaftler sollten daher immer unmissverständlich die Bezüge deutlich machen.

An den statistischen Standards müssen die Virologen wohl noch ein bisschen arbeiten. Schätzunterschiede um den Faktor 1000 und mehr waren bei 77 Studien zur Grippewelle 2009 keine Seltenheit.

(Bild: Jessica Wong et al. Case fatality risk of influenza A(H1N1pdm09): a systematic review)

So weiß man auch nicht, was Christian Drosten meint, wenn er in den letzten Veröffentlichungen Anfang März von "nur" 0,3 bis 0,7 Prozent Fallsterblichkeit spricht. Meint er jetzt die von WHO und anderen Einrichtungen immer angegebene Crude-CFR? Oder im Sinne von Trump die "Gesamtinfektionsfallsterblichkeit IFR" oder die mit Hochrechnungen bestimmte Sterblichkeitsrate der Gesamtbevölkerung?

Für Letzteres spräche seine Angabe, dass sich bei einem Schätzwert von 0,5 Prozent etwa 278.000 Tote in Deutschland ergeben könnten. Diese Zahl würde dann auch recht genau mit den schon früher veröffentlichten Schätzungen übereinstimmen, dass SARS-CoV-2 etwa zehnfach schlimmer ist als die Grippeviren bei der letzten großen Welle, die 2017/18 hierzulande rund 25.000 Opfer forderte. Bei der Grippewelle gabs laut Robert-Koch-Institut (RKI) 182.000 labordiagnostisch bestätigte Infektionen, also eine confirmed CFR (final) in Deutschland von 13,7 Prozent und eine Sterberate von 0,03 Prozent.

[update]

Die nachgewiese Todesfallzahl bei der Grippeepidemie 2017/18 in Deutschland betrug nur 1665 Patienten, die 25100 beruhen auf einer statistischen "Übersterblichkeitsrechnung" des RKI. Um die confirmed CFR mit den nachgewiesenen Werten hier im Artikel vergleichen zu können, muss man daher eine confirmed CFR (final) von 0,9 Prozent verwenden. (Danke für den Hinweis eines Lesers im Forum). Da müsste man zu den obigen Fallsterbezahlen noch die "übersterbliche CFR" hinzufügen ...

[\update]

Die primitive Berechnung für die Crude-CFR durch Death/Cases ergibt nur dann wirklich Sinn, wenn die Welle weitgehend abgeflacht ist und man sie abschließend bewerten kann, aber nicht mittendrin in der tobenden Phase. Die Verantwortlichen, die das sicherlich wissen, halten aber höhere Zahlen offenbar lieber unter dem Deckel, um keine Panik zu verbreiten. So war das auch bei der SARS-Epidemie 2003/4, wo die WHO während des Verlaufs von 3 bis 4 Prozent CFR berichtete – am Ende waren es dann final 9,6 Prozent (hauptsächlich mit Opfern in China und Hongkong; Deutschland und die USA hatten keine Toten zu beklagen). Und so findet man heutzutage in den Veröffentlichungen der WHO-China Joint Mission die Fußnote: "The Joint Mission acknowledges the known challenges and biases of reporting crude CFR early in an epidemic".

Woran liegt das? Bei den derzeit über 110.000 Erkrankten befindet sich noch gut die Hälfte in den Krankenhäusern. Bei ihnen weiß man zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, wie es für sie ausgeht. Eine möglicherweise bessere, wenn auch pessimistischere Näherung über die Fallsterblichkeit kann man erhalten, wenn man die beiden sicheren "Endzustände" Tod oder Gesundung zum Zeitpunkt t als Maß für die CFR nimmt, also Anteil der Verstorbenen (D) zu der Summe der Genesenen (R) und der Verstorbenen (D):

CFRb(t) = D(t)/(R(t) + D(t))

Für Leute die sich mit Statistik auskennen: Tod oder Gesundung wären die beiden "Absorptionszustände" in den Markov-Ketten.

Die so definierte CFRb macht aber auch erst im späteren Verlauf einer Epidemie Sinn, wenn genügend Daten über die Endzustände vorliegen. Bislang ist sie nur für China einsetzbar, wo man von rund der Hälfte der Fälle den Ausgang kennt.

Am 9. März um 17:00 gab es weltweit 111.362 bestätigte Fälle, 62.392 davon galten als wieder gesund (obwohl auch das noch nicht wirklich sichergestellt ist) und 3892 waren verstorben. Das ergibt eine rohe Fallsterblichkeit CFR von 3,5 Prozent, also inzwischen schon etwas mehr als obige 3,4 Prozent. Die CFRb-Abschätzung liegt hingegen deutlich höher bei 5,9 Prozent.

Aber so richtig statistisch korrekt ist diese Abschätzung auch nicht, weil auch sie in dem dynamischen Prozess – Erkrankung, Diagnose, Gesundung oder Tod – den zeitlichen Verlauf völlig unberücksichtigt lässt (siehe dazu auch "How to calculate the mortality rate during an outbreak").

Wie man solche epidemischen Prozesse mit teilweise tödlichem Ausgang mit ihrem zeitlichen Verlauf ordentlich berechnen kann, haben die amerikanischen Mathematiker Edward Kaplan und Paul Meier schon 1958 aufgezeigt: die Kaplan-Meier-Methode ("Methods for Estimating the Case Fatality Ratio for a Novel, Emerging Infectious Disease", mit Validierungen anhand der SARS-Daten von 2003). Bei der kommen noch Zeit-Parameter mit ins Spiel, etwa wie lange die mittlere Überlebensdauer (ts) der Verstorbenen nach der Laborbestätigung der Infektion war (dem Startzeitpunkt des "Falles").

In der einfachsten einparametrischen Form ist dann die CFR zum Zeitpunkt t nach Kaplan-Meier:

CFRkm = Verstorbene(t) / Fälle zum Zeitpunkt (t-ts)

Aufwendiger parametrisierte KM-Modelle verwenden zusätzlich die mittlere Zeit bis zur Feststellung der Gesundung, die exponentielle Wachstumsrate der Fälle, die Zeit zwischen Ausbruch und Laborbestätigung und so weiter. Einen guten Überblick über die Abschätzungen aus diversen Quellen von vielen relevanten Parametern gibt das MIDAS 2019 Novel Coronavirus Repository.

Komisch nur, dass man weder über CFRb (habe ich so getauft) noch über Kaplan-Meier-Schätzungen im Umfeld zu COVID-19 viel veröffentlicht findet. CFRb kann man aus den zahlreichen laufend aktualisierten Fall-Monitoren einfach selbst ausrechnen (aktuelle Werte auch als .csv auf GitHub), für CFRkm fand ich zunächst nur eine einzige Arbeit vom Imperial College London, die aber noch auf einer recht mickrigen Daten-Basis vom 8. Februar 2020 aufbaut.

Lediglich für die Provinz Hubei haben die britischen Wissenschaftler statistisch halbwegs relevante Daten von 26 Verstorbenen (mit durchschnittlich 9 Tagen Überlebenszeit nach Krankenhausaufnahme) verarbeiten können. Damit errechneten sie eine CFRkm von 18,1 Prozent (mit großem Unsicherheitsbereich im 95-%-Konfidenzintervall von 11 bis 81 %). Das ist jedenfalls deutlich mehr als obige 3,5 Prozent Der genaue Zeitpunkt der Laborbestätigung ist in den verwendeten Datensätzen allerdings nicht vorhanden. Anfang Januar brauchte man in Wuhan 15 Tage für den Test (Median-Wert), Anfang Februar nur noch 5 Tage.

Für die ebenfalls untersuchten rund 300 internationalen Fälle ohne Festland-China sind lediglich 2 Verstorbene zu wenig für eine ordentliche Statistik. Hier kann man dennoch Modellrechnungen verwenden, die mittlere Überlebenszeit von den Hubei-Daten einbeziehen und die mittlere Gesundungszeit, denn dafür gabs schon mehr Werte. Je nach Modell liegt dann die confirmed CFR bei 1,2 bis 5,6 Prozent.

Anhand der Passagiere, die in denselben Fliegern saßen und den negativen Testergebnissen der übrigen nichtinfizierten rund 750 Passagiere und ein paar weiteren "educated guesses" haben die Forscher auch die eingangs erwähnte Infektionsrate IFR abgeschätzt. Abhängig von der geschätzten Dauer, wie lange Infektionen nachweisbar sind, errechneten sie 0,8 oder 0,9 Prozent – also deutlich weniger als die CFR-Werte. Auch spätere Veröffentlichungen anderer Experten bestätigten diesen Schätzwert von etwa 1 Prozent für die IFR. Also auf einen bestätigte Fall kommen bei 3,4 Prozent CFR im Schnitt 2,4 Leute, die die Krankheit so überstehen, ohne sich testen zu lassen.

Für Deutschland allein kann man indes noch nichts ausrechnen, hier lagen bis Montag noch alle CFR-Werte bei Null, inzwischen sind aber eine Patientin und ein Patient gestorben (Stand 10.3. 8:00). Ein weiterer verstorbener Deutscher fällt wohl in die ägyptische Statistik. 18 Patienten gelten hierzulande derzeit als genesen, 9 befinden sich in kritischem Zustand. Diese Werte stehen schon seit geraumer Zeit im "Dashboard", steht zu befürchten, das hier das Update fehlt.