Bundesverfassungsgericht schränkt BND-Massenüberwachung deutlich ein
Die Karlsruher Richter haben die Praxis der Fernmeldeaufklärung von Ausländern in anderen Staaten für verfassungswidrig erklärt. Die Kontrolle ist zu stärken.
Paukenschlag in Karlsruhe: Die anlasslose Massenüberwachung des Bundesnachrichtendienstes (BND) von Ausländern im Ausland verstößt in ihrer jetzigen Form formell und inhaltlich gegen Grundrechte. Die derzeitige Fassung im BND-Gesetz sei aus formalen und inhaltlichen Gründen verfassungswidrig, erklärte der frischgebackene Gerichtspräsident Stephan Harbarth bei der Verkündung des Urteils am Dienstag (Az. 1 BvR 2835/17). Mit der mit Spannung erwarteten Entscheidung halten die Richter zum ersten Mal fest, dass der deutsche Staat das Fernmeldegeheimnis und die Pressefreiheit auch im Ausland wahren muss und an das Grundgesetz gebunden ist.
Zweck der Spionage festlegen
Der Bundesnachrichtendienst überwache die Telekommunikation an der Schnittstelle von Internationalisierung, wachsender sicherheitsbezogener Herausforderungen und der Digitalisierung, die auch eine zunehmende "Verwundbarkeit von Rechtsgütern" mit sich bringe, erläuterte Harbarth, der im Herbst 2016 als CDU-Bundestagsabgeordneter noch für die einschlägige Gesetzesnovelle gestimmt hatte. Eine anlasslose strategische Aufklärung des Geheimdienstes unter Verzicht von Eingriffsschwellen dürfe es in diesem sensiblen Umfeld nicht geben. Nötig sei ein Verbot pauschaler globaler Überwachung, stellte Harbarth klar.
Der Gesetzgeber müsse Zwecke der Spionage klar festlegen und etwa spezifische Anforderungen an die "Bevorratung" von Daten und den Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen aufstellen, appellierte er an seine früheren Kollegen im Parlament. Nötig seien "Löschungspflichten" und auch beim Transfer von Informationen an ausländische Stellen bedürfe es klarer Vorgaben. Der individuelle Rechtsschutz der Betroffenen müsse durch eine ausgebaute, objektiv-rechtliche Kontrolle erhalten werden, die gerichtlich und administrativ sicherzustellen sei.
Außerordentliche Streubreite
Besonders erschwerend falle die außerordentliche Streubreite der strategischen Telekommunikationsüberwachung ins Gewicht, unterstreichen die Richter in ihrem typischen "Ja, aber"-Urteil. Die Maßnahme sei "anlasslos gegenüber jedermann einsetzbar" und erlaube "gezielt personenbezogene Überwachungen", objektive Eingriffsschwellen gebe es nicht: "Das Instrument erlaubt heute, tief in den Alltag hinreichende, auch höchst private und spontane Kommunikationsvorgänge zu analysieren und zu erfassen sowie bei der Internetnutzung zum Ausdruck kommende Interessen, Wünsche und Vorlieben aufzuspüren."
Andererseits helfe "die Versorgung der Bundesregierung mit Informationen für ihre außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen" ihr, "sich im machtpolitischen Kräftefeld der internationalen Beziehungen zu behaupten" und "folgenreiche Fehlentscheidungen" zu vermeiden. Insoweit gehe es mittelbar zugleich darum, die demokratische Selbstbestimmung und den Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung zu wahren.
Hausaufgaben machen
Ein weiterer Gesichtspunkt für die "Rechtfertigungsfähigkeit" der strategischen Überwachung liege darin, dass sie durch eine Behörde vorgenommen werde, "die selbst grundsätzlich keine operativen Befugnisse hat". Einige Auflagen, wie das Werkzeug grundrechtskonform ausgestaltet werden soll, hat das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber ins Hausaufgabenbuch geschrieben.
Zunächst müsse dieser "einschränkende Maßgaben zum Volumen der für die jeweiligen Übertragungswege auszuleitenden Daten" auf- und sicherstellen, "dass das von der Überwachung abgedeckte geographische Gebiet begrenzt bleibt". Die Inlandskommunikation sowie erforderlichenfalls ein Austausch, an dem auf mindestens einer Seite Deutsche oder Inländer beteiligt sind, müsse der BND "vor einer manuellen Auswertung nach dem Stand von Wissenschaft und Technik bestmöglich" ausfiltern.
Die Befugnis, Verbindungs- und Standortdaten im Rahmen der Auslandsüberwachung gesamthaft zu speichern und zu bevorraten, muss den Verfassungshütern zufolge "hinsichtlich der davon erfassten Datenströme begrenzt bleiben". Eine Speicherdauer von sechs Monaten dürfe nicht überschritten werden.
Besondere Berufs- und Personengruppen
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung für Zwecke der Strafverfolgung im Inland steht noch aus. Die Richter fordern "besondere Anforderungen für den Schutz von Berufs‑ und Personengruppen, deren Kommunikation eine gesteigerte Vertraulichkeit verlangt". Ein gezieltes Eindringen in solche schutzwürdigen Vertraulichkeitsbeziehungen etwa von Rechtsanwälten oder Journalisten könne nicht schon allein damit gerechtfertigt werden, dass die angestrebten Informationen nachrichtendienstlich nützlich sind.
Zudem sei dem Kernbereich privater Lebensgestaltung stärker Rechnung zu tragen. "Nicht hinreichend begrenzt ausgestaltet sind auch die angegriffenen Regelungen zur Übermittlung von Erkenntnissen der Auslandsüberwachung an andere Stellen", rügt das Gericht. Soweit Daten an ausländische Dienste wie die NSA übermittelt würden, müsse der Gesetzgeber zusätzlich "eine Vergewisserung über den rechtsstaatlichen Umgang mit den Daten auf Empfängerseite vorschreiben". Der bisher einfach mitgeschickte "Disclaimer" reicht folglich nicht aus. Die gesetzlichen Regeln müssen ferner "insbesondere einen Austausch von Erkenntnissen aus auf Deutschland bezogenen Überwachungsmaßnahmen ausländischer Dienste unterbinden", konstatieren die Richter.
Ein solcher "Ringtausch" sei verfassungsrechtlich verboten. Nach der BND-NSA-Selektorenaffäre verlangt der 1. Senat zudem, dass die Suchbegriffe von den Partnerdiensten "plausibilisiert werden", um das "Ausspähen unter Freunden" oder Industriespionage zu verhindern. Der BND dürfe zudem von ihm erhobene Verbindungs- und Standortdaten nicht "unselektiert" ohne jede Kontrollmöglichkeit aus der Hand geben. Zu gewährleisten ist laut dem Urteil "eine Kontrolle in institutioneller Eigenständigkeit". Hierzu gehörten ein eigenes Budget, eine eigene Personalhoheit sowie Verfahrensautonomie. Die zuständigen Stellen "sind personell wie sächlich so auszustatten, dass sie ihre Aufgaben wirksam wahrnehmen können". Inhaltlich müssten sie gegenüber dem BND "alle für eine effektive Kontrolle erforderlichen Befugnisse haben".
Strategische Fernmeldeaufklärung
Gegen Teile des 2016 novellierten BND-Gesetzes, das dem Auslandsgeheimdienst eine Überwachung ganzer Internetknoten und Netze erlaubt, hatten Anfang 2018 sieben größtenteils im Ausland investigativ arbeitende Journalisten Einspruch erhoben, die Bereiche wie Korruption und Wirtschaftskriminalität beackern. Auch die Organisation Reporters sans Frontieres und damit die Mutter des deutschen Ablegers Reporter ohne Grenzen (ROG) als juristische Person, erhob Einspruch. Unterstützt wurden sie etwa von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), der Deutschen Journalisten-Union (dju), dem Deutschen Journalisten-Verband (DJV) sowie dem Netzwerk Recherche.
Der in Karlsruhe verhandelte Streit drehte sich neben der Frage, ob das Grundgesetz auch für eine Sicherheitsbehörde im Ausland gilt, vor allem um die "strategische Fernmeldeaufklärung" des BND mit dem Schwerpunkt Ausland. Der Geheimdienst darf demnach prinzipiell mit dieser "strategischen Kontrolle" die internationale Telekommunikation mit bis zu hunderttausenden Selektoren wie Telefonnummern, E-Mail-Adressen oder Pseudonymen von Nutzern durchforsten und die Inhalte analysieren, die in diesem Datenstaubsauger hängenbleiben.
Schonfrist bis Ende 2021
Dieses weitgehende Instrument wollte der 1. Senat dem BND nicht ganz aus der Hand schlagen. Er befand, dass es verhältnismäßig und damit verfassungsgemäß ausgestaltet werden könne. Die beanstandeten Vorschriften gelten daher bis zum Jahresende 2021 fort, um dem Gesetzgeber eine weitere Reform unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Anforderungen zu ermöglichen.
Die "Rohmasse" des Datenstaubsaugers ist riesig: Allein am Frankfurter Internetknoten De-Cix kann der BND täglich laut Medienberichten rund 1,2 Billionen Verbindungen ausleiten. Davon sollen nach dem Aussortieren erster IP-Adressen mit klarem regionalen Bezug zu deutschen Nutzern rund 24 Milliarden Rohdaten übrigbleiben. Im Inland dürfen die darauf angesetzten Suchbegriffe keine Identifizierungsmerkmale enthalten, mit denen sich bestimmte Telekommunikationsanschlüsse gezielt erfassen lassen. Für das Ausland gilt dies nicht. Aber auch dort sind für den BND etwa Telefonnummern deutscher Staatsangehöriger oder einer deutschen Gesellschaft tabu, solange es sich nicht um "Beifang" handelt.
Richtungswechsel
Ausländer im Ausland galten bislang für den Bundesnachrichtendienst als "vogelfrei", monierten Kritiker in den vergangenen Jahren immer wieder. Verletzt sei schon der allgemeine Gleichheitssatz aus Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz, argumentierte etwa der Verfassungsrechtler Eggert Schwan, weil es keinen sachlich zu rechtfertigenden Grund für diese auf den Unterschied zwischen Deutschen und Nichtdeutschen abstellende Ungleichbehandlung gebe. Die Verfassungsbestimmungen richteten sich an Jedermann, an "alle Menschen".
Eine Wende um 180 Grad hatte der vormalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, an diesem Punkt bereits vollzogen. Das CSU-Mitglied hat nach seinem Ausscheiden aus der Richterbank mehrfach seine neue Ansicht zu Protokoll gegeben, dass auch die Kommunikation im Ausland zwischen Ausländern grundrechtsgeschützt ist. Die BND-Zugriffe auf Datenaustauschpunkte wie den De-Cix bezeichnete Papier sogar als "insgesamt rechtswidrig". Das ganze "strategische" Konstrukt passe nicht mehr auf die Internetkommunikation.
Unabhängiger Auslandsgeheimdienst
Ex-BND-Chefs wie Gerhard Schindler oder August Hanning hatten vor dem Urteilsspruch betont, dass Deutschland einen starken, von Dritten unabhängigen Auslandsgeheimdienst brauche. Der BND habe immer wieder entscheidende Informationen über das weltpolitische Geschehen wie zum Irak-Krieg durch das Abhören von Telefonaten und das Mitlesen von Mails erhalten. Die Väter des Grundgesetzes würden sich im Grabe umdrehen, wenn etwa die Kommunikation der Taliban von Artikel 10 Grundgesetz geschützt sein solle.
Aktive und frühere Geheimdienstler sahen sogar die Sicherheit Deutschlands bei einer möglichen harten Entscheidung des Gerichts bedroht. Sie schlossen nicht aus, dass hinter dem Verfahren eine gezielte geheimdienstlich gesteuerte Aktion stecken könnte, um der Bundesrepublik zu schaden.
(kbe)