Fahrbericht Nio EL6​: Chinesisches E-SUV auf Höhe der Konkurrenz

Ein chinesisches E-SUV im Format eines Mercedes EQE SUV: Hat der Nio EL6 eine reelle Chance? Ja, wie schon eine erste kurze Ausfahrt zeigt.​

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Nio EL6

(Bild: Nio)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Stefan Grundhoff
Inhaltsverzeichnis

Wie groß der Bedarf des Marktes an einem weiteren, voluminösen E-SUV tatsächlich ist, wird sicher auch unter diesem Artikel einigermaßen leidenschaftlich diskutiert. Hersteller geben sich diesbezüglich entspannt und bringen in den Handel, was Strategen vorab als aussichtsreich ermittelt haben. Nio ist noch keine zehn Jahre alt, hat finanzielle Sorgen, bringt mit dem EL6 aber ein E-SUV auf den Markt, das gute Chancen auf einen Erfolg hat. Denn das Auto ist sehr ordentlich gemacht, was der Kunde angesichts selbstbewusster Preise auch erwarten kann. Denn von den Listenpreisen sollte sich niemand blenden lassen. Für die Batterie kommt noch ein stattlicher Betrag hinzu.

Formal wagt sich Nio auch mit dem EL6 nicht allzu weit vor. Das Design ist eher schnörkellos, was in einer Zeit, in der sich viele über schwulstig-aggressive Gestaltungen abzusetzen versuchen, nur zu begrüßen ist. Mit 4,85 m Länge und knapp 2 m Breite (Außenspiegel eingeklappt) gehört der EL6 schon zu den größeren SUVs auf deutschen Straßen. Wem das noch zu wenig präsent sein sollte: Volvo EX90 und Mercedes EQS SUV sind nochmals ein gutes Stück länger. Der EL6 bringt es auf einen Radstand von 2,92 m, das Platzangebot für die Passagiere ist dementsprechend großzügig. Der Kofferraum enttäuscht mit 579 Litern auf den ersten Blick, denn bezogen auf die äußeren Abmessungen ist das kein herausragender Wert. Allerdings kommt 89 Liter unter dem Ladeboden noch hinzu. Damit erreicht er zwar insgesamt nicht die Werte, die Tesla für das Model Y oder Skoda für den neuen Kodiaq nennen, doch die meisten Fahrer werden damit wohl gut hinkommen.

Nio EL6 außen (5 Bilder)

Nio stellt mit dem EL6 ein E-SUV vor, das etwa so groß wie Tesla Model Y und Mercedes EQE SUV ist.
(Bild: Nio)

Eine tadellose Verarbeitung, hochwertige Materialien, bequeme Sitze und eine gute Dämmung tragen zum Gesamteindruck bei, in einem noblen Auto unterwegs zu sein. Das können Kunden auch erwarten, denn auch der Nio EL6 tritt nicht an, um der etablierten Konkurrenz mit sensationell niedrigen Preisen Beine zu machen. 53.500 Euro klingen für ein derart großes und umfangreich ausgestattetes E-SUV fair, allerdings ist dieser Preis gewissermaßen ohne Batterie zu sehen. Die muss entweder gemietet oder gekauft werden.

Nio bietet zwei Batterien an. Die kleine Variante ist mit einem Energiegehalt von 75 kWh versehen, die sich mit maximal 140 kW laden lassen. Wer sie mieten will, zahlt 169 Euro im Monat, wer lieber kauft, muss 12.000 Euro zum Kaufpreis hinzurechnen. Mit der großen Ausbaustufe steigt der Energiegehalt auf 100 kWh, die Ladeleistung liegt nach einem Update hier bei 180 kW. Für die Miete fallen 289 Euro im Monat an, verkauft wird sie für 21.000 Euro. Damit bewegt sich der Nio EL6 finanziell locker im Bereich eines Genesis GV70 Electrified.

Der Koreaner übertrifft den EL6 bei der Ladeleistung deutlich. Dessen ist man sich bei Nio bewusst und kontert mit einem Batterie-Tausch-System. Bislang sind dafür in Deutschland sieben Stationen vorgesehen. Bislang ist kein anderer Hersteller mit eingestiegen, was die Chancen, dass sich diese Idee durchsetzt, ziemlich übersichtlich halten dürfte. Zumal es nur Nio-Nutzern offensteht, die die Batterie mieten. Für viele Fahrprofile ist ohnehin entscheidender, dass es an Wechselstrom stets bei maximal 11 kW bleibt. Inzwischen gibt es immer mehr E-Autos, welche die 22 kW an vielen öffentlichen Ladestationen komplett ausschöpfen können.

An der Hinterachse ist ein 210-kW-E-Motor verbaut, vorn einer mit 150 kW. Der Fahreindruck ist dementsprechend: Ohne jegliches Getöse beschleunigt das 2,3-Tonnen-SUV in 4,5 Sekunden auf Tempo 100, Schluss ist erst bei 200 km/h. Im Alltag wirkt das Gespann der beiden Motoren derart souverän, dass viele Fahrer wohl auch mit dem Antrieb im Heck allein vollauf zufrieden wären. Den Verbrauch im WLTP gibt Nio mit 20,4 bis 22,1 kWh an, herausragend genügsam ist das nicht. In Verbindung mit der kleinen Batterie sollen im Zyklus 400 km ohne Stopp möglich sein, mit der großen maximal 529 km. Ziehen Sie für den Alltagsbetrieb gedanklich jeweils 100 km von diesen Angaben ab, haben Sie eine realistische Reichweite plus Sicherheitsreserve. Das gilt natürlich nur, wenn man die möglichen, heftigen Fahrleistung nicht ständig abruft.

Unterwegs fällt zunächst auf, dass sich der Sprach- und Überwachungsassistent Nomi endlich zum Schweigen bringen lässt. Dann gibt es keine ebenso nervigen wie gut gemeinten Ratschläge, die Finger vom Telefon zu lassen oder auf die Straße zu blicken. Die Lenkung ist leichtgängig und durchaus präzise, doch fehlt es an Rückmeldung und auch an Rückstellkräften. Beides würde noch mehr Fahrfreude bereiten. Elektronisch angesteuerte Dämpfer an der Vorderachse verhärten sich bei starken Bremsmanövern. Das schwere SUV taucht damit weniger stark ein, was zusätzlich den Effekt mit sich bringt, dass etwas mehr Bremskraft über die Hinterräder übertragen werden kann. Abgesehen davon sind die Dämpfer auf Komfort ausgerichtet, was in diesem Segment sinnvoll erscheint.

Nio EL6 Innenraum (5 Bilder)

Sorgsam verarbeitet, hochwertig ausgekleidet: Nichts lässt einen zweifeln, in einem teuren Auto zu sitzen.
(Bild: Nio)

Insgesamt schnürt Nio mit dem EL6 ein konkurrenzfähiges Angebot. Das E-SUV ist komfortabel, leise, sauber verarbeitet, souverän motorisiert und hat ordentlich Platz. Die Ladeleistung ist sowohl an Wechsel- als auch an Gleichstrom nur durchschnittlich flott. Ein Preisbrecher ist der EL6 definitiv nicht, denn mit Miete oder Kauf der Batterie kommt zum Listenpreis noch ein Betrag hinzu, der das E-SUV letztlich deutlich teurer macht als beispielsweise ein Tesla Model[ ]Y.

Andererseits: Wer vergleichbar voluminöse und kräftige E-SUVs von Mercedes oder BMW haben will, zahlt erheblich mehr als bei Nio. Berücksichtigt werden muss zudem, dass Nio bei der Serienausstattung geradezu generös einschenkt: Unter anderem Soundsystem mit 1-kW-Verstärkerleistung, zu öffnendes Panoramadach, Wärmepumpe, Head-up-Display und Matrix-Licht sind inklusive. Hinzu kommt eine ganze Armada von Assistenten und ein LiDAR-System, was darauf hindeuten könnte, dass Nio mittelfristig an mehr als nur automatisiertes Fahren auf Level 2 denkt.

(mfz)