Atomkraft: 10 Jahre Super-GAU in Fukushima und Deutschlands Kernkraftwendewende

Seite 2: Angela Merkel: Eine Herkulesaufgabe ohne Wenn und Aber

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Angela Merkel 2010 im Atomkraftwerk Emsland.

(Bild: dpa)

"Das Atomgesetz wird novelliert. Damit wird bis 2022 die Nutzung der Kernenergie in Deutschland beendet. Die während des dreimonatigen Moratoriums abgeschalteten sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke und das seit längerem stillstehende Kraftwerk Krümmel werden nicht wieder ans Netz gehen", erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 9. Juni 2011, 90 Tage nach dem Super-GAU von Fukushima. 2015, 2017 und 2019 solle jeweils ein AKW vom Netz geht, bis 2021 drei weitere Kraftwerke. Die drei neuesten Anlagen können bis Ende 2022 laufen.

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Elf Jahre vor dieser Regierungserklärung der Bundeskanzlerin hatte die seinerzeit von Gerhard Schröder geführte rot-grüne Bundesregierung mit den Energieversorgungsunternehmen einen "Atomkonsens" vereinbart, nach dem im November 2003 das AKW Stade und im Mai 2005 das AKW Obrigheim endgültig abgeschaltet wurden. Die übrigen Atomkraftwerke hätten bis maximal 2020 laufen sollen. Im Herbst 2010 erhöhte die dann von CDU/CSU-FDP geführte Bundesregierung die Reststrommengen für die vor 1980 in Betrieb gegangenen sieben AKW für zusätzliche acht Betriebsjahre – auch als "Laufzeitverlängerung" bekannt; die anderen zehn Atomreaktoren erhielten Strommengen für zusätzliche 14 Jahre.

Am 17. März 2011, knapp eine Woche nach der Fukushima-Katastrophe, hatte die Bundeskanzlerin erklärt: "Wir können und wir dürfen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Wir gehen auch nicht zur Tagesordnung über, weder die Menschen in Deutschland – das zeigt das außergewöhnlich große Interesse an allen Sondersendungen im Fernsehen – noch die Politik. Auch die Bundesregierung kann das nicht, und sie ist nicht zur Tagesordnung übergegangen."

Deutschland könne zwar nicht von derart gewaltigen Erdbeben und Flutwellen wie in Japan getroffen werden, meinte Merkel. Die deutschen Atomkraftwerke gehörten zu den weltweit sichersten. Sie lehne es ab, die AKW in Deutschland abzuschalten, aber den Strom aus Atomkraftwerken anderer Länder zu beziehen.

In einem ersten Schritt sollten alle deutschen Atomkraftwerke noch einmal einer umfassenden Sicherheitsprüfung unterzogen werden, und zwar im Lichte der durch die Katastrophe von Fukushima entstandenen neuen Lage, erklärte Merkel am 17. März 2011: "Die bisher unbestrittene Sicherheit der deutschen Kernkraftwerke beruht auf der Einhaltung des Atomgesetzes, der auf dem Atomgesetz beruhenden Rechtsverordnungen und der erteilten Genehmigungen. Die Vorkommnisse in Japan haben jedoch gezeigt, dass Ereignisse auch jenseits der bisher berücksichtigten Szenarien eintreten können."

Am 9. Juni 2011 schließlich erklärte Merkel, das im Herbst 2010 von ihrer Regierung beschlossene Energiekonzept bleibe gültig: "Erreichen können wir diese Ziele nur durch einen tief greifenden Umbau unserer Energieversorgung, durch neue Strukturen und den Einsatz modernster Technologie." Die Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie sei ein hohes Gut und müsse bewahrt und ausgebaut werden: "Denn ihr verdanken wir unseren Wohlstand."

Deutschland steige deshalb nicht einfach aus der Atomkraft aus, sondern schaffe die Voraussetzungen für die Energieversorgung von morgen. "Genau das hat es bislang so in Deutschland nicht gegeben", sagte Merkel. Die Novelle des Atomgesetzes, die Arbeit für ein Entsorgungskonzept, die Versorgungssicherheit und das Energiekonzept der Zukunft mit einer Hinwendung zu Erneuerbaren Energien seien eine Herkulesaufgabe – "ohne Wenn und Aber".

Als Begründung für die energiepolitische Neuausrichtung gab Merkel an, sie habe eine neue Bewertung vorgenommen: "Denn das Restrisiko der Kernenergie kann nur der akzeptieren, der überzeugt ist, dass es nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. Wenn es aber eintritt, dann sind die Folgen sowohl in räumlicher als auch in zeitlicher Dimension so verheerend und so weitreichend, dass sie die Risiken aller anderen Energieträger bei weitem übertreffen." Vor dem Unfall von Fukushima habe sie das Restrisiko der Atomkraft akzeptiert, weil sie überzeugt gewesen sei, dass es in einem Hochtechnologieland mit hohen Sicherheitsstandards nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. "Jetzt ist es eingetreten."

In der darauffolgenden Debatte erwiderte Frank-Walter Steinmeier für die SPD, die Regierung habe mit ihrer innerhalb eines halben Jahres vollzogenen Kehrtwende eine energiepolitische Irrfahrt unternommen und Vertrauen zerstört. Was Merkel vorgelegt habe, sei nicht ein Gesetz zur Energiewende, "sondern es ist Ihr Irrtumsbereinigungsgesetz, das Sie jetzt auf den Weg bringen müssen".

Wenn es um Unterstützung von Merkels Regierung ginge, würde er zu jedem einzelnen Gesetz Nein sagen, erklärte Steinmeier. "Aber es geht um mehr. Es geht um die Wiederherstellung von Vertrauen – auch in der Energiepolitik. Es geht um die Wiederherstellung eines energiepolitischen Grundkonsenses, den diese Regierung in der Vergangenheit ohne jede Not zerstört hat."

Steinmeier zitierte eine Bundestagsrede des früheren SPD-Abgeordneten Hans-Jochen Vogel vom 14. Mai 1986, drei Wochen nach dem Super-GAU von Tschernobyl: "Es ist […] ein Gebot der Vernunft, die Energiepolitik, insbesondere die Kernenergiepolitik, in der Bundesrepublik […] von Grund auf neu zu überdenken. […] Die Nutzung der vorhandenen Kernkraftwerke ist nur noch für eine Übergangszeit zu verantworten." Es habe 25 Jahre gedauert, bis die heutige Regierung an diesem Punkt angekommen seien, merkte Steinmeier an. "Das ist eine bemerkenswerte Lernkurve, Frau Merkel. Dazu gratuliere ich."

Der Grüne Jürgen Trittin resümierte, Merkel beende damit auch einen persönlichen Kampf. "Zehn Jahre lang haben Sie gegen die Energiewende in Deutschland, gegen Energieeffizienz, Energiesparsamkeit und erneuerbare Energien gekämpft. Sie haben noch in der Bundestagswahl – ich zitiere – erklärt: 'Wenn ich sehe, wie viele Kernkraftwerke weltweit gebaut werden, wäre es jammerschade, wenn Deutschland aussteigen würde.'" Dabei bezog sich Trittin auf eine Rede der Kanzlerin auf dem Tag der Deutschen Industrie des BDI am 15. Juni 2009.

Merkel übernehme die Laufzeitbegrenzung von Rot-Grün und packe einen Deckel drauf, damit die von ihr selbst verursachte Zockerei mit den Reststrommengen ein Ende habe, sagte Trittin. "Sie üben tätige Reue und schalten die sieben ältesten Atomkraftwerke plus Krümmel ab, die aufgrund eben dieser Zockerei noch am Netz sind. […] Sie schalten damit die Kraftwerke ab, die gegen einen Flugzeugabsturz überhaupt keinen Schutz haben."

Dass Merkel "ihre Fahne einrolle", sah Trittin als ein Erfolg der Anti-AKW-Bewegung und der Umweltverbände. Es sei ein Erfolg der Hunderttausende von Menschen, die auf Mahnwachen, auf Demonstrationen und Sitzblockaden für einen Ausstieg gestritten haben. "Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie sich bei denen schon nicht entschuldigen wollen – dafür hätte ich ja Verständnis –, so finde ich, dass Sie sich heute bei diesen Menschen für die Nachhilfe hätten bedanken sollen, die sie Ihnen erteilt haben.