Medikamente Mangelware? Wie die Produktion nach Europa geholt werden könnte

Seite 4: Eine Ära der mRNA-Medikamente?

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mRNA ist allerdings sehr empfindlich. In Zellen übersteht sie in der Regel nur ein paar Minuten. CureVacs Drucker modifiziert sie, damit sie stabiler wird, und verpackt sie in Lipidkügelchen. Auch das Reinigen der gewünschten mRNA ist unabdingbar, sagt Bergmann, sonst könnten Verunreinigungen dem Patienten schaden.

Noch in diesem Jahr rechnet CureVac mit der Lizenz zum Drucken der ersten mRNA-Therapeutika. Das Unternehmen möchte damit Universitätskliniken und große Forschungseinrichtungen weltweit für klinische Studien beliefern. Prinzipiell könnte die Medikamentenfabrik aber auch direkt am Krankenbett stehen oder in Länder gebracht werden, die gerade mit einer neuen Variante eines Virus zu kämpfen haben, stellt Bergmann in Aussicht. Denn die Fabrik funktioniere universell und könne mehr als nur einen Typ an mRNA liefern. Die Steuerung dafür entwickelt derzeit Tesla Automation, das ursprünglich deutsche Maschinenbauunternehmen Grohmann Engineering mit Hauptsitz in Prüm. Elon Musk respektive Tesla Motors hat den Spezialisten für Mikroprozessoren, Speicherchips, Sensoren und Steuergeräte 2017 aufgekauft.

Nun beruhen heute gerade erst einmal zwei Impfstoffe gegen Covid-19 auf mRNA. Zigtausend andere Arzneien sind dagegen aus anderen Stoffen. Dennoch glaubt Bergmann an eine Ära der mRNA-Medikamente und damit an seine flexible Minifabrik. Hoffnung auf den Wandel macht ihm der Trend zur Individualisierung in der Medizin – insbesondere in der Krebsmedizin herrscht Aufbruchstimmung. Patienten werden heutzutage unterschiedlich behandelt, nachdem ihre Krebszellen genetisch und molekularbiologisch analysiert wurden. CureVac möchte genau jene mRNA in den Körper spritzen, die gesunde Körperzellen dazu bringt, den Krebszellrezeptor auszubilden und die Körperabwehr dagegen mobil zu machen. Auch andere haben sich von der Aufbruchsstimmung anstecken lassen: Das US-Start-up Nutcracker Therapeutics will ebenfalls mit einem mRNA-Drucker aufwarten, um in das Feld der Krebsmedizin vorzustoßen.

"Wenn mRNA-Therapeutika an Bedeutung gewinnen, ist das Drucken in kleinen Anlagen ein hochinteressanter Ansatz zur Flexibilisierung der Produktion", sagt Henrik Jeimke-Karge, Pressesprecher vom Verband forschender Arzneimittelhersteller. Andere äußern sich skeptischer. Glatz wendet ein: "Als das Genom von den Neunzigerjahren an dechiffriert wurde, hieß es, wir hätten bald nurmehr Gentherapeutika. Klassische Wirkstoffe werden aber über viele Jahrzehnte weiterhin ihre Bedeutung nicht verlieren", sagt er.

Jedenfalls müsste sich die Pharmaindustrie grundlegend wandeln, wenn sie von hermetisch abgeriegelten Produktionshallen abkommt und auf Apparate am Krankenbett setzt. Bisher sind mit jedem neuen Wirkstoff mehrere klinische Studien erforderlich und deren Design muss strenge Kriterien erfüllen. Von Asien bis nach Europa hat sich diese regulatorische Praxis etabliert. Bergmann meint jedoch: "Zugelassen wird in unserem Fall dann nur noch das Gerät und der Herstellungsprozess, nicht mehr das Medikament selbst."

Losgelöst vom Stellenwert von mRNA-Therapeutika hat die Branche einen Trend zu flexibler und modularer Produktion erfasst. Modulare Anlagen, in denen sich verschiedene Substanzen synthetisieren lassen, sind nun in Europa gefragt, hört man vonseiten der Anlagenbauer. Sie sind einerseits ein Tribut an die zunehmende Individualisierung in der Medizin – wie sie mit den mRNA-Druckern auf die Spitze getrieben wird. Andererseits sind sie ein Spiegel des steigenden Kostendrucks in der Pharmaindustrie. Bis aus einem Wirkstoff ein Medikament wird, müssen drei extrem kostspielige klinische Phasen durchlaufen werden und die Zeit, in der die dann zugelassenen Medikamente patentgeschützt gewinnbringend verkauft werden können, ist mit 20 Jahren kurz.

Der Druck in der Pharmaindustrie, diese Medikamente schnell in kommerziellen Größen zu produzieren, ist groß, denn die Generikahersteller stehen bei Wirkstoffen, die einen breiten Einsatz versprechen, mit dem Tag der Zulassung quasi in den Startlöchern. Die Planung und Realisierung einer konventionellen Anlage auf der grünen Wiese kann jedoch bis zu drei Jahre dauern – Zeit, die von den gewinnbringenden 20 patentgeschützten Jahren abgeht. Mit dem Bau modularer Anlagen könne diese Zeitspanne auf weniger als zwei Jahre verkürzt werden, so Exyte, ein international agierendes Anlagenbau-Unternehmen aus Stuttgart. Und auch wenn die nächste Pandemie kommt: Agilität – die Fähigkeit, möglichst schnell mit angepasster Rezeptur etwa auf neue Virusvarianten reagieren zu können, – sei wichtig wie nie. In flexiblen Produktionsanlagen wie in Freiburg müssen die Module für unterschiedliche Produkte lediglich angepasst und neu kombiniert werden.

Ob nun künftig Pillen aus einer Maschine neben dem Patientenbett purzeln, Fabriken menschenlos ferngesteuert laufen oder Staaten ihr Geld darauf verwenden, medizinische Grundversorgung wieder aufzubauen – die Sicherung von Zugängen zu Arzneien kann eines am meisten brauchen: Diversität.

(jsc)