Medikamente Mangelware? Wie die Produktion nach Europa geholt werden könnte

Fiebersaft für Kinder, Tamoxifan als Brustkrebsmedikament: Lieferengpässe bei den verschiedensten Medikamenten zeigen die Probleme der Abhängigkeit von Asien.

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(Bild: Moment/Getty Images)

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Lesezeit: 15 Min.
Von
  • Susanne Donner
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SARS-CoV-2 hat uns eindringlich die Fragilität der globalen Pharmaproduktion vor Augen geführt. Bis heute weiten sich Lieferengpässe aus. Ob das Brustkrebsmedikament Tamoxifen, Fiebersaft für Kinder oder nun das Schlaganfallmedikament Actilyse – die Mangelwirtschaft ist im Westen neues Leid für Patienten und Apotheker. Lieferketten, einst just in time ein Räderwerk der Effizienz, stocken heute immer wieder. Ursache sind Flaschenhälse in der Produktionskette. Ein Wirkstoff oder ein Vorprodukt stammt manchmal nur noch aus einem einzigen Werk weltweit. Kann diese Fabrik nicht liefern, ist die weltweite Versorgung in Gefahr.

Würde ein Bakterium die nächste Pandemie auslösen, wären die Folgen vielleicht noch verheerender als während der aktuellen Viruspandemie: Die Infizierten würden massenhaft Antibiotika brauchen, weltweit. Aber 90 Prozent der Antibiotika kommen aus Asien. "Wir hätten es extrem schwer gehabt, unseren Arzneibedarf zu decken, wenn aus Ländern wie China und Indien bei enormem Eigenbedarf womöglich nichts mehr exportiert hätte werden können", sagt Matthias Braun, bis Mai 2022 Geschäftsführer Pharmazeutische Produktion und Fertigung von Sanofi in Deutschland. Die globale Arbeitsspezialisierung und Monopolbildung sind vor allem eins: profitabel. Krisenfest sind sie dagegen definitiv nicht. Im Zuge der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2021 kündigte der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor diesem Hintergrund die Rückholung der Produktion wichtiger Arzneistoffe nach Europa an.

Passiert ist seitdem nicht viel. Die Produktion von Arzneistoffen verlagert sich seit Langem und weiterhin unaufhaltsam ostwärts. Die Zahl der Produzenten in der EU schrumpft seit Jahren. Dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung zufolge ist die Zahl der Pharmaunternehmen in China von 2010 bis 2018 jedes Jahr um 1,3 Prozent gewachsen. In Europa samt der Schweiz schrumpfte sie im selben Zeitraum um 0,8 Prozent pro Jahr. Nahezu alle Generika, also jene Arzneien, deren Patente ausgelaufen sind und die günstig verkauft werden, kommen aus China und Indien. Diese Medikamente sind die medizinische Grundversorgung, etwa Präparate gegen Fieber, Kopfschmerzen und Grippe. Lässt sich ein solcher Trend, der den enormen Triebkräften der Marktwirtschaft unterliegt, brechen? Lässt sich die Pharmaproduktion deglobalisieren?

Über Rohstoffe und De-Globalisierung:

Shenzhen, Hafen von Yantian

(Bild: zhangyang13576997233 / Shutterstock.com)

Die vergangenen Monate haben schmerzlich gezeigt, dass die Abhängigkeit von Ressourcen einen hohen Preis hat. Doch lässt sich das Rad noch zurückdrehen? Werfen wir also einen Blick auf die Versorgungslage. Wie weit sich Europa mit strategisch wichtigen Rohstoffen selbst versorgen könnte und was das für die Industrie bedeutet, wollen wir mit einer Rohstoff-Artikelserie erkunden.

Die Gründe für das Abwandern der Pharmaproduktion nach Asien sind trivial, wie das Beispiel der Allerweltsarznei Paracetamol zeigt: Vor über 15 Jahren stiegen chinesische Fabrikanten in die Nitrophenolproduktion ein. Nitrophenol ist giftig und steht im Verdacht, krebserregend zu sein. Wie immer waren die Auflagen für Umwelt- und Arbeitsschutz im Umgang mit der Chemikalie in China verglichen mit der EU ungehörig niedrig, die Löhne ebenso. Nitrophenol ist aber der Grundstoff, aus dem Paracetamol hergestellt wird. Europäische Unternehmen kauften alsbald günstig und gerne ihr Nitrophenol in China, erhöhte das doch ihre eigene Gewinnmarge. Noch heute heißt es in der hiesigen Pharmabranche: Der Gewinn liegt im Einkauf. Einzig der Preis entscheidet, strategische und moralische Beweggründe spielen praktisch keine Rolle. Da für die Herstellung von Paracetamol kein dezidiertes Pharmawissen notwendig ist, sondern das Molekül in zwei Reaktionsschritten großtechnisch hergestellt wird, verlegten sich bald auch chinesische Hersteller darauf, das Schmerzmittel selbst zu erzeugen.

"Diese Leute haben dann europäische Hersteller mit niedrigen Preisen systematisch aus dem Markt geboxt und dann die Preise angehoben", erzählt Sanofi-Manager Braun. Von 120.000 Tonnen weltweit benötigtem Paracetamol kommen heute zwei Drittel aus China und Indien. Die Türkei und die USA teilen sich die übrigen Kapazitäten.

Dieser Text stammt aus: MIT Technology Review 7/2022

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