Digitalisierung im Gesundheitswesen: Soll Geld sparen, kostet aber erst einmal

Nach Milliardeninvestitionen stehen E-Rezept und elektronische Patientenakte bereit. Doch wie kann Digitalisierung im Gesundheitswesen kĂĽnftig Geld sparen?

vorlesen Druckansicht 8 Kommentare lesen
Diskussionspanel auf der DMEA: Mehrere Leute sitzen auf einer BĂĽhne

Die Diskussionsteilnehmer von links nach rechts: Marek Rydzewski (Chief Digital Officer der Barmer), Melanie Wendling (Geschäftsführerin bvitg), Dr. Jan Hensmann (Referatsleiter Strategische Grundsatzfragen beim BMG), Brenya Adjei (Geschäftsführerin Gematik), Moderation: Dr. Karsten Neumann

(Bild: heise online)

Lesezeit: 7 Min.
Inhaltsverzeichnis

Vor dem Hintergrund der steigenden Krankenkassenbeiträge und der enormen Investitionskosten in die Infrastruktur widmeten sich wichtige Vertreter auf der Digital-Health-Messe DMEA einer zentralen Frage: Wie können digitale Prozesse Kosten im Gesundheitswesen dämpfen? An der Diskussion beteiligten sich unter anderem Brenya Adjei (Geschäftsführerin der Gematik), Marek Rydzewski, (Chief Digital Officer der Barmer Krankenkasse), Dr. Jan Hensmann (Referatsleiter für Strategische Grundsatzfragen im Bundesgesundheitsministerium) sowie Melanie Wendling (Geschäftsführerin des Bundesverbands Gesundheits-IT, bvitg).

Die erste Erkenntnis kam schnell: Bevor die Digitalisierung Kosten dämpft, verursacht sie welche. "Digitalisierung kostet am Anfang auch etwas Aufwand und damit auch Geld", betonte Gematik-Geschäftsführerin Brenya Adjei. Es zeigten sich jedoch messbare Erfolge: So habe sich etwa das E-Rezept mit 700 Millionen Einlösungen im Versorgungsalltag etabliert, und die elektronische Patientenakte 3.0 (ePA) eine überraschend niedrige Widerspruchsquote von nur fünf Prozent. Beides werteten die Teilnehmer als deutliches Signal für grundsätzliche Akzeptanz in der Bevölkerung. Ferner böte die vom Gesundheitsministerium entwickelte Digitalisierungsstrategie erstmals einen ganzheitlichen Rahmen für die weitere Entwicklung. Dennoch sehen die Diskussionsteilnehmer erhebliche Herausforderungen, die bewältigt werden müssen, um das volle Potenzial für Effizienz und Wirtschaftlichkeit auszuschöpfen.

Als ein wichtiges Kernproblem machten die Diskussionsteilnehmer die fragmentierte Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen aus. "Unser grundsätzliches Problem ist, dass wir Digitalisierung in Deutschland in Teilbereichen denken. Wir denken es nie vom Anfang bis zum Ende. Wir denken es nie in der 360-Grad-Perspektive", sagte Melanie Wendling. Diese Insellösungen verhindern, dass Potenziale vollständig ausgeschöpft werden und Anwender – medizinisches Personal wie Patienten – den vollen Nutzen erfahren.

Ein weiteres Defizit: Häufig werden analoge Prozesse unreflektiert digitalisiert. "Wir sollten erst mal eine Prozesskritik ansetzen, um zu verstehen, wofür kann uns dann die Digitalisierung helfen, anstatt ein System, was eigentlich auf die analoge Welt ausgelegt ist, mit der Digitalisierung zu überziehen", mahnte Marek Rydzewski. Generell plädierte er dafür, unnötige Prozessschritte wegzulassen, um die Investitionsnotwendigkeit zu verringern und schnell Wirkung zu erzielen.

Auch der menschliche Faktor werde oft vernachlässigt, wie Melanie Wendling betonte: "Es ist nicht nur Invest in die Technik, sondern es ist auch Invest in die Menschen. Ich glaube, was in Deutschland primär fehlt, ist das passende Mindset. Die Menschen müssen erstens wissen, was sie mit der Digitalisierung [machen] können. Was macht sie mit mir? Was macht sie mit meinem Arbeitsplatz? Und wie funktioniert sie?"

Mit der Einrichtung des Kompetenzzentrums Interoperabilität im Gesundheitswesen (KIG) wurde ein Schritt zur Vereinheitlichung der fragmentierten Digitalisierungslandschaft gesetzt. Das KIG etabliert Standards und schafft verbindliche Rahmenbedingungen für alle Akteure im Gesundheitswesen.

"Es ist gut, dass es das KIG gibt", so der einhellige Tenor der Branchenexperten, die sich jedoch wĂĽnschen, "dass das KIG dann auch auf andere Stakeholder im Gesundheitswesen einwirken kann." Auch die Abstimmung zwischen verschiedenen Abteilungen innerhalb des Gesundheitsministeriums wird als verbesserungswĂĽrdig angesehen.

Die Teilnehmer waren sich einig, dass Deutschland bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens aufgeholt hat, im internationalen Vergleich aber noch zurückliegt. Marek Rydzewski bezweifelte, dass Deutschland ohne grundlegende Strukturänderungen zu anderen Ländern aufschließen könne. Die bvitg-Geschäftsführerin plädierte dafür, den ständigen Vergleich mit anderen Ländern zu beenden und stattdessen klare Vereinbarungen über den eigenen Digitalisierungsweg zu treffen.

Dr. Hensmann zeigte sich optimistischer und erwartet mehr Dynamik, sobald ein "Tipping Point" erreicht werde. Viele technische Grundvoraussetzungen seien inzwischen geschaffen worden.

Videos by heise

"Heute spielen Versicherte in jeder Gesundheitsversorgung eine untergeordnete Rolle im Sinne von Selbstmanagement. Wir sind Empfänger von Gesundheit und Behandlung. Was wir machen müssen, ist, Selbstheilungskräfte zu stärken, indem wir sie dazu bewegen, mit ihren Daten umzugehen, neue Technologien zu nutzen", betonte Rydzewski. Einen wesentlichen Vorteil sieht der Barmer-CDO in der Möglichkeit, Zweitmeinungen einzuholen – was jedoch voraussetzt, dass alle Behandlungsdaten in der ePA verfügbar sind.

Diese Entwicklung steht vor kulturellen Herausforderungen, wie Melanie Wendling anmerkte: "Wir sind in Deutschland seit Jahrzehnten eigentlich darauf konditioniert, dass uns ein Arzt sagt, was wir haben und was wir machen sollen. Um sich selbst um seine Gesundheit und Prävention zu kümmern und dafür vielleicht auch andere mobile Devices, Apps in Anspruch zu nehmen, das liegt nicht in der Natur des deutschen Patienten und der deutschen Patientin."

Für eine erfolgreiche Digitalisierung ist es daher entscheidend, dass Patienten ihre eigenen Gesundheitsdaten aktiv nutzen können: "Aus meiner Perspektive wäre es wichtig, wenn wir die ePA zu einem mächtigen Werkzeug entwickeln wollen, müssen wir jetzt alles daransetzen, dass die Versicherten Zugriff auf ihre Daten bekommen."

Die Diskussion thematisierte auch den Aspekt "Mut" aus verschiedenen Blickwinkeln. Marek Rydzewski sagte mit Blick auf die nächsten Digitalisierungsschritte: "Ich bin der Meinung, wir brauchen [...] Mut. Wir müssen auf die Sicherheit der Daten achten, aber wir sollten aufhören, die Versicherten zu bevormunden, ob sie etwas möchten oder nicht, sondern die Lösungen einfach an die Rampe stellen." Die geringe Widerspruchsrate bei der ePA sei ein großer Erfolg und zeige, dass die meisten sie akzeptieren. Man könne nicht immer alle mitnehmen, müsse aber die Bedenken "ernst nehmen", so Rydzewski, und verwies auf die Opt-out-Möglichkeit, die bisher nur fünf Prozent der gesetzlich Versicherten genutzt hätten. "Wir dürfen [aber] wegen 5 Prozent nicht 95 Prozent ausbremsen".

Dr. Hensmann vom BMG betonte: "Wichtig [...] ist das Thema Vertrauen. Und im Prozess der Digitalisierungsstrategie und auch jetzt in der Folge haben wir dadurch geschafft [...], viele Akteure zusammenzubringen. Und das Problem war, nicht zu negieren, [sondern] nĂĽchtern darauf zu schauen, manchmal auch leidenschaftlich darauf zu schauen und dann zu schauen, welchen Weg man gemeinsam zielfĂĽhrend adressieren kann."

Für den Vertrauensaufbau "müssen die Menschen erst wissen, was Digitalisierung mit ihnen macht. Was macht sie mit meinem Arbeitsplatz? Und wie funktioniert sie? Und da muss man investieren, eben auch in Schulung. Und das wird oft vergessen. Es ist die Schulung, es ist Zeit, es ist die Notwendigkeit, die Menschen auch mitzunehmen in ihren Ängsten."

Melanie Wendling forderte einen anderen Mut – nämlich kritische Reflexion und den Verzicht auf unnötige Digitalisierung: "Ich finde Mut auch ganz wichtig, allerdings auch in die andere Richtung. Wir haben im System Sachen, die entwickelt werden müssen, weil es solche Vorgaben gibt, die am Ende aber niemand braucht. Und eigentlich muss man auch den Mut haben zu sagen, das ist Murks, das braucht keiner, lasst es bitte weg."

Durchaus selbstkritisch merkten die Teilnehmer an, dass durch den starken Fokus auf Digitalisierung oft der Blick auf die Anwender verloren gehe. Kleine Praxen seien häufig überfordert und benötigen Unterstützung. Brenya Adjei plädierte dafür, nicht nur über Digitalisierung zu sprechen, sondern den konkreten Versorgungsnutzen in den Mittelpunkt zu stellen – etwa durch bessere Diagnosen mithilfe der ePA.

In ihrem Fazit waren sich wieder alle einig: "Wir sind auf einem guten Weg", man müsse "dran bleiben und machen", dabei aber "selbstkritisch bleiben". Jede Institution solle mehr auf die eigene Veränderungsbereitschaft achten, statt auf andere zu verweisen.

(vza)