Mercedes-Benz-Tochter entwickelt eigene Auto-Prozessoren
Das Mercedes-Benz-Spin-off Athos Silicon arbeitet an funktional sicheren SoCs, die nicht nur in autonomen Fahrzeugen mit dem Stern zum Einsatz kommen sollen.
Athos erprobt seinen Erstling Polaris wenig verwunderlich in Fahrzeugen von Mercedes-Benz. Weil die Chiplets noch im Tape-out stecken, läuft im ersten von vier Fahrzeugen aktuell aber nur ein Emulator.
(Bild: Athos Silicon)
In der Automobilwelt öffnet Technik für autonomes Fahren weiterhin die Scheckbücher der Autohersteller, sodass etablierte Halbleiterfirmen wie Intel oder Nvidia mit Automotive-Ablegern ihrer Entwicklungen den Geldregen abschöpfen möchten. Allerdings passen deren Produkte, Herangehensweise und Geschäftspraktiken nicht immer zu den Vorstellungen der Autohersteller.
Mercedes-Benz hat deshalb in den vergangenen Jahren in einem Forschungszentrum im Silicon Valley an einem eigenen System-on-Chip (SoC) gearbeitet. Dieser soll sowohl die Performance-Anforderungen fĂĽr autonomes Fahren nach Level 3 und 4 erfĂĽllen als auch regulatorische Anforderungen hinsichtlich der Ausfallsicherheit, die Fahrerassistenzsysteme befriedigen mĂĽssen.
Allerdings ist die Entwicklung hochleistungsfähiger Chips teuer: Mit einem prognostizierten Jahreseigenbedarf im niedrigen einstelligen Millionenbereich kann Mercedes allein nicht die Skaleneffekte nutzen, die Halbleiterentwickler sonst gewohnt sind, um die massiven Entwicklungskosten von Chips auf modernen Fertigungsprozessen wieder reinzuholen.
Spin-Off
Daher hat sich Mercedes vor einem halben Jahr entschieden, die bisherigen Anstrengungen komplett in das Spin-off Athos Silicon auszugliedern – mit einer Beteiligung von nur noch etwa 20 Prozent. Die Win-Win-Situation: Athos hat bereits einen Erstkunden, der das Produkt kennt, aber auch alle Freiheiten, die Technik anderen Interessenten anzubieten und damit zu höheren Stückzahlen zu kommen.
Auf der derzeit im kalifornischen Stanford stattfindenden Fachkonferenz Hot Chips hat uns Athos-CTO Francois Piednoel das Konzept näher erläutert. Piednoel war jahrelang Test- und Performance-Ingenieur bei Intel, bis er vor sieben Jahren zu neuen Ufern (eben Mercedes-Benz) aufbrach. Sein letztes Projekt bei Intel war damals Skylake X alias Core i-7000X(E).
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Redundanz
Piednoel ist auch Hobbypilot und überträgt ein Prinzip der funktionalen Sicherheit aus der Luftfahrt nun auf Technik für Autos. Athos verwendet mehrere identische Chiplets, die redundant arbeiten, sodass bei Abweichungen das Mehrheitsprinzip darüber entscheidet, welches Rechenergebnis denn nun genommen wird. Athos nennt den Ansatz Multiple Systems-on-Chip (mSoC).
Die Idee wird initial – auch wegen weniger strenger regulatorischer Vorgaben – bei weitem nicht so hart wie bei Avionik ausgelegt. Bei Passagierflugzeugen sind drei funktionsgleiche Rechner mit unterschiedlichen Architekturen (x86, ARM, MIPS) üblich, die durchgängig parallel arbeiten und ihre Ergebnisse untereinander abgleichen. Athos begnügt sich beim ersten Prozessor mit Codenamen Polaris auf zwei baugleiche Chiplets (jeweils mit eigenem Arbeitsspeicher) und einem dritten, kleineren Chiplet in der Mitte, das den Abgleich übernimmt. Letzteres entscheidet anhand von Rahmenparametern und Überwachungsfunktionen, welchem der beiden großen Chiplets es glaubt, falls die beiden unterschiedliche Ergebnisse liefern.
Die Chiplets hat Athos in Kooperation mit DreamBig Semi (eine Gruppe ehemaliger Marvell-Ingenieure) entwickelt. Die Kommunikation läuft über den Chiplet-Standard UCIe. Athos hat diesen ergänzt, etwa mit einem Seitenkanal und der Möglichkeit, an denselben Host verschiedene Chiplets anzuflanschen. Letzteres ist an den PCIe-Standard angelehnt, wo ein langer x16-Steckplatz (etwa für Grafikkarten) auch eine kürzere x4-Karte stecken und nutzen kann. UCIe an sich sieht laut Piednoel aktuell nur unflexible 1:1-Verbindungen vor.
(Bild:Â Athos Silicon)
Zwei oder acht Prozessorchiplets
Polaris soll genug Performance für autonomes Fahren gemäß Level 3 bieten. Das erste Chiplet habe kürzlich den sogenannten Tape-out hinter sich gebracht und das zweite stehe kurz davor. Das heißt, Samsungs Fertigungssparte hat das Design erhalten und erstellt jetzt passende Belichtungsmasken für die Produktion. Engineering-Samples für interessierte Kunden sollen Anfang 2026 verfügbar sein. Schon ein Jahr später soll die zweite Stufe mit dem Codenamen Northstar zünden, die dann für Level 4 taugt. Der Clou: Northstar verwendet die gleichen Chiplets wie Polaris, aber mehr davon, nämlich acht große und mehrere kleine dazwischen. Die Partitionierung bleibt auch dort analog zu Polaris eine direkte Kopplung von jeweils zwei Chiplets, die denselben Workload bekommen. Dennoch soll Northstar mehr rohe Rechenleistung abliefern als Nvidias Thor.
Athos übernimmt von Samsung als Foundry komplette Wafer und kümmert sich selbst ums Testen, Sortierung der Chiplets nach Fertigungsgüte (Binning) und andere Verarbeitungsstufen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass Athos für das Packaging auf Silicon Box zurückgreift. Das Unternehmen aus Singapur offeriert eine besondere Technik: In einem Vakuum bläst Silicon Box Plasma zwischen Die und Träger und presst beiden Bauteile dann mit definierter Geschwindigkeit gegeneinander. Dadurch verschweißen die Kontaktflächen untrennbar miteinander. Dadurch sind die Verbindungen mechanisch stabiler als Lötverbindungen, wo die Lotbällchen im Laufe der Zeit aufgrund von anhaltenden Vibrationen (welche beim Fahren unweigerlich auftreten) abreißen können.
Zulieferer fĂĽr Zulieferer
Athos will seine Prozessoren nicht nur direkt an Autohersteller verkaufen, sondern auch an deren Zulieferer. Die KI-Modelle, die darauf laufen, lassen sich wiederum individuell anpassen. Dadurch besteht trotz identischer Hardware eine Individualisierungsmöglichkeit, mit der sich Hersteller voneinander abheben oder einen Wettbewerb unter Zulieferern auslösen können.
Athos legt keinen Wert darauf, öffentlich als Hersteller der Prozessoren genannt zu werden. Mercedes kann das gesamte fertige System als Eigenentwicklung unter eigenem Namen verkaufen und jeder andere Autohersteller dasselbe tun. Das ist ein klarer Seitenhieb gegen Nvidias öffentlichkeitswirksames Auftreten hinsichtlich deren Drive-Plattformen und entspricht viel mehr den Gepflogenheiten der Branche. Üblicherweise wissen nur Fachleute, was genau an einem konkreten Fahrzeug denn nun von der Marke selbst und was von Bosch oder Continental oder Valeo oder ZF oder wem auch immer stammt.
Laut Piednoel ist Athos bereits in fortgeschrittenen Gesprächen mit einem asiatischen Autohersteller, der Interesse an Polaris und Northstar zeigt. Er wollte auf Nachfrage keinen Namen nennen, betonte aber, dass es sich nicht um einen chinesischen Hersteller handle: An solche dürfe er seine Technik wegen Exportbeschränkungen nicht verkaufen.
Andere Märkte
Eine weitere Möglichkeit zur Skalierung, den Athos ins Auge fasst, ist die Ausweitung auf andere Märkte neben Automotive. Die genutzte Technik verfolgt im Raum kleine Würfel, so Piednoel. Für autonomes Fahren betrage die Raumauflösung dafür rund hundert Meter seitlich und mehrere Hundert Meter vor und hinter dem Fahrzeug, mit einer Würfelkantenlänge von etwa zweieinhalb Zentimetern.
Die Kantenlänge ist je nach Anwendungsfall eine Stellschraube, an der Athos drehen kann, ohne aber andere Rechenhardware zu benötigen. Bei kleineren Würfeln soll die Technik für Roboter taugen, die sich nicht autobahnschnell, aber in wechselhaften Umgebungen besonders präzise orientieren müssen.
Vergrößert Athos die Würfel, landet die Firma bei Luftfahrzeugen. Piednoel gab zu Protokoll, dass er erst kürzlich seine Sicherheitseinstufung habe erneuern lassen müssen, weil es Gespräche mit einem Drohnenhersteller gebe. Der Energiehunger seiner Rechenplattform (den er nicht konkret nennen wollte) spiele dabei keine Rolle: Das konkrete Projekt, um das es gehe, sei kein handliches Fluggerät mit elektrischen Rotoren, sondern habe eine Turbine an Bord … (mue)