Kommentar: Chatkontrolle – Ganz hartes Aufwachen für Anfänger

Die Bundesregierung schafft es nicht, die Stimmung im Land zu lesen. Wie sehr das Digitale politisch ist, lernt sie gerade per Crashkurs, meint Falk Steiner.

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Bundeskanzler Friedrich Merz gibt eine Erklärung vor der Presse ab, im Hintergrund Innenminister Alexander Dobrindt.

Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU).

(Bild: blue spruce media/Shutterstock.com)

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This article is also available in English. It was translated with technical assistance and editorially reviewed before publication.

Der erste digitalpolitische Lackmustest für die schwarz-rote Bundesregierung ist kräftig in die Hose gegangen. Union und SPD hat es vollkommen kalt erwischt, dass eine breite Koalition von Berufsgeheimnisträgern über Kinderschutzbund und Bürgerrechtlern bis zu Wirtschaftsvertretern sowie ganz normalen Nutzern lautstark und vernehmbar gegen die von ihren Gegnern so getaufte Chatkontrolle aufsteht. Und die Bundesregierung – nach fünf Monaten nun nicht mehr ganz so neu – in die Pflicht nimmt, sich auf europäischer Ebene aktiv dagegen einzusetzen.

Ein Kommentar von Falk Steiner
Ein Kommentar von Falk Steiner

Falk Steiner ist Journalist in Berlin. Er ist als Autor für heise online, Tageszeitungen, Fachnewsletter sowie Magazine tätig und berichtet unter anderem über die Digitalpolitik im Bund und der EU.

Wer genau hinhört in diesen Tagen, der kann nur erstaunt sein über das Erstaunen von Ministern, Ministerialen und Abgeordneten. Einige raunen, dass sie gar nicht wüssten, wer denn diese Kampagne losgetreten habe. Es gehe der Bundesregierung einzig um die bessere Bekämpfung der Verbreitung von Darstellungen sexuellen Missbrauchs, heißt es jetzt, nachdem die Berliner Blase mit Zuschriften von Bürgern überhäuft wurde.

Niemals würde man eine anlasslose Chatkontrolle anstreben, versichert Justizministerin Stefanie Hubig von der SPD – nachdem die Unterstützung dafür tagelang im Raum stand. Stefan Kornelius, als Regierungssprecher auch Sprecher des Bundeskanzlers, gibt am Mittwoch zu Protokoll: "Die Ausarbeitung dieser Verordnung ist mit enorm viel technischen Detailregelungen verbunden, die wir zum jetzigen Zeitpunkt sehr gerne den Fachleuten in den beteiligten Häusern überlassen."

Die Debatte kommt offenkundig vollkommen ungelegen. Und weil es kaum noch Befürworter der in Deutschland so umstrittenen Ideen gibt, die die dänische Ratspräsidentschaft derzeit wieder vorantreibt, hätte man das wissen können. Diese Bundesregierung hat hier den Kardinalfehler wiederholt, den schon viele Vorgängerregierungen begangen haben: Das Digitale ist nun einmal politisch.

Genau das nicht mehr anzuerkennen, sich nicht um die technischen Gegebenheiten und ihre Folgen zu kümmern, ist ein Problem. Insbesondere für eine Regierung, die mit dem Digitalministerium und Karsten Wildberger nun endlich durch strukturelle Fachkompetenz glänzen wollte. Nur: schon in den vergangenen Tagen zeichnete sich ab, dass hier immer noch ein massives Defizit besteht.

Hauptzuständig für dieses Dossier ist Innenminister Alexander Dobrindt. Und seine Sprecherin betont, dass es auch weiterhin keine gemeinsame Positionierung der Bundesregierung gebe. Sprich: Was Justizministerin Hubig von der SPD jetzt sagt, ist noch keine Verhandlungsposition. Immerhin: Die SPD hat sich öffentlich klar positioniert. Rückt sie davon ab, wäre das zwar historisch nicht das erste Mal, aber langsam gehen ihr die Polsterprozente aus, um weitere Wähler zu enttäuschen.

Es fehlt weiterhin an der letzten Konsequenz, um das Thema endgültig zu erledigen. Eigentlich müsste die Koalition jetzt ganz schnell aufwachen und eine klare Position beziehen: ein klares Nein zur Etablierung neuer Kontrollmechanismen auch als Abstimmungsposition für den EU-Rat. Doch das schafft sie bislang nicht. Sie eiert herum, obwohl sie nichts mehr zu gewinnen hat.

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Der gesamte Vorgang ist, und das zeigt sich im Bundestag, Wasser auf die Mühlen der AfD. Die Partei, die vor allem ein instrumentelles Verhältnis zur Meinungsfreiheit pflegt, muss gar nicht viel machen: CDU, CSU und SPD liefern ihr die angeblichen Angriffe auf die Meinungsfreiheit mangels eigener Kompetenz frei Haus.

Schon jetzt gibt es Abgeordnete der Regierungsfraktionen, die eine ganz einfache Frage formulieren: Eine Infrastruktur wie diese, möglicherweise irgendwann in den Händen der AfD – kann man das wollen? Oder muss man das verhindern? Die Antwort darauf kann nicht sonderlich kompliziert sein.

Es wäre zu schön gewesen, wenn diese neue Bundesregierung in digitalpolitischen Fragestellungen nicht die so oft gemachten Fehler ihrer Vorgänger wiederholt, ganz unabhängig davon, welches Ressort zuständig ist und welche politische Partei das Haus leiten darf. Auch grobe Fehler so früh in der Legislatur zu machen, wäre dabei noch verzeihlich, auch wenn der Anspruch einer Bundesregierung eigentlich ein anderer sein muss. Aber: Das gilt nur für den Fall, dass daraus auch wirklich gelernt wird.

Dass der Bundesregierung dabei auf die Finger geschaut wird, sollte sie mit den Ereignissen der vergangenen Tage durchaus wahrgenommen haben. Falls sie sich jetzt nicht dem Irrglauben hingibt, dass hinter dem Protest gegen diese vermeintliche Technikalität von Unterpunkten in Vorschlägen für eine Verhandlungsposition des Rats der Mitgliedstaaten irgendeine böse, orchestrierende Macht steht. Das wäre fatal – und wirklich dumm.

(vbr)