Guerilla in der Online-Werbung

Frustrierte Kunden und listige Videoproduzenten verwandeln das vielgepriesene virale Marketing im Internet in eine Waffe gegen große Marken. Viele Unternehmen kommen mit dieser Herausforderung nicht zurecht.

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Von
  • Antonio Regalado

Frustrierte Kunden und listige Videoproduzenten verwandeln das vielgepriesene virale Marketing im Internet in eine Waffe gegen große Marken. Viele Unternehmen kommen mit dieser Herausforderung nicht zurecht.

Es war eine ungewöhnliche Anfrage, die der Lebensmittelkonzern Danone kürzlich bekam. In einem Video hatte der Brasilianer Fernando Motolese sich über die Auswirkungen des Danone-Joghurts Activia auf das Verdauungssystem lustig gemacht. Wäre das Unternehmen bereit, ihm für jeden Klick auf das Youtube-Video ein paar Cents zu zahlen, fragte Motolese? Falls nicht, habe er auch noch kritischere Parodien über die Produkte von Danone auf Lager.

„Das war schon eine Art Erpressung“, sagt Renato Fischer, der in der Werbeagentur Young & Rubicam Danone betreut und Motoleses „Angebot“ auf den Schreibtisch bekam. Dennoch schickte Fischer es an den Konzern weiter. Es sei besser, freundlich zu bleiben, meint er, denn: „Dieser Typ könnte einiges anstellen, überall und jederzeit.“

Der 27-jährige Motolese gehört zu einer wachsenden Schar von Guerilla-Videoproduzenten, die sich im Webdschungel an große Unternehmen heranmachen. Auch wenn seine Produktionsfirma Produlz.com nur aus ein paar Rechnern und einem Aufnahmestudio in einer mit Graffitis übersäten Seitenstraße von Sao Paulo besteht, stellt sie doch eine ernstzunehmende Gefahr da: Seine Videos haben bei Youtube bereits 17 Millionen Zuschauer gefunden.

Er und andere sind mit ihren Aktivitäten dabei, die Regeln des Werbe-Business umzuschreiben. Bislang hatten hier die großen Marken dominiert: Sie mussten einfach nur ihre Spots in die Fernseher von Millionen Verbrauchern bekommen. Doch die funken nun zurück: Jeder, der mit einer Videokamera umgehen kann und halbwegs Talent hat, kann selbst ein Millionenpublikum beglücken. Und wie es aussieht, beschäftigen sich viele der neuen Hobbyproduzenten gerne mit Markenfirmen – ganz egal, was die davon halten.

Zwar stärken viele Amateurvideos eher ein Markenimage. Nicht selten geht der Schuss aber nach hinten los, wenn wütende Kunden und frustrierte Mitarbeiter ihre Sicht der Dinge darlegen. Bereits 2008 waren laut einer Studie bereits zehn Prozent aller „Werbevideos“ auf Youtube Parodien oder private Gegenkampagnen. „Individuen haben heute mehr Einfluss als je zuvor in der Geschichte“, sagt Sage Lewis, Gründer von SageRock, einer Agentur für digitales Marketing. „Sobald Sie den Verbrauchern die Macht über ihre Marke überlassen, haben Sie ein Problem.“

Gelegentlich lässt sich mit dem Unternehmensbashing sogar schon Geld verdienen. Ein Beispiel ist das viereinhalbminütige Musikvideo „United Breaks Guitars“, das der Songwriter David Carrol im vergangenen Jahr auf Youtube gestellt hatte. Auf einem United-Flug war seine Gitarre kaputtgegangen, die Fluglinie weigerte sich jedoch, Carroll den Schaden zu ersetzen. Inzwischen haben neun Millionen Menschen Carrols musikalischen Protest gesehen. Er selbst habe danach das finanziell beste Jahr seiner Karriere erlebt, sagt Carrol, weil er mehr Musik verkauft habe und öfter für Auftritte gebucht worden sei als vorher. United hingegen dürfte der Imageschaden nach Expertenschätzungen etliche Millionen Dollar gekostet haben.

Für Unternehmen ist diese Entwicklung ein echtes Problem. Während offizielle Werbespots unbeachtet bleiben, wachsen sich inoffizielle, die mit Sex, krudem Witz und kritischen Botschaften arbeiten, zu medialen Flächenbränden aus. „Wo gekämpft wird, sammelt sich immer eine Menschenmenge“, stellt Carroll fest. Er habe sein Video sehr sorgfältig konzipiert, um einen maximalen Effekt zu erzielen. Längst ist seine Racheaktion Gegenstand akademischer Forschung über Schadensbegrenzung von Unternehmen, darunter eine Fallstudie an der Harvard Business School, die zu dem Schluss kommt: Markenfirmen „haben keine Kontrolle mehr über ihre Botschaft“.

Und die Macht der Individuen wächst weiter. In jeder Minute laden sie zigtausend neue Videos auf Youtube hoch, pro Tag werden dort rund zwei Milliarden Videos abgerufen – eine Steigerung von 50 Prozent gegenüber 2009. Werbetreibende wiederum gaben im vergangenen Jahr über eine Milliarde Dollar für Internet-Spots aus, hat PriceWaterhouseCoopers errechnet.

Das Kapern von Markenbotschafen per Video, „Brand-Jacking“ genannt, ist umso leichter, je weniger präsent eine Firma mit eigenen Online-Videos ist. Zwar würden Unternehmen allmählich besser darin, sich zu verteidigen, sagt Sage Lewis. Aber noch könne jeder ein Video hochladen und darin über eine Marke herziehen.

Solche viralen Botschaften bergen reale ökonomische Risiken. Im vergangenen Jahr war Domino’s Pizza mit einem Video konfrontiert worden, dass Angestellte der Fastfood-Kette zeigt, wie sie mit den Pizzazutaten allerlei Unappetitliches anstellen. Domino’s ging gegen das Video vor. „Zwei Idioten, eine Videokamera und eine blöde Idee genügen heute, um das Ansehen einer 50 Jahre alten Marke zu schädigen“, lamentierte Domino’s-Sprecher Tim McIntyre.

Nicht alle Virals im Netz sind allerdings das Werk von Amateuren. Manchmal stecken auch Werbeagenturen dahinter, die ein Video – ohne Auftrag – als so genannte Goldidee produzieren, um damit ihre Kreativität zu demonstrieren. So versuchte etwa in einem vermeintlichen VW-Spot ein Selbstmordattentäter sich mit einem Polo in die Luft zu sprengen, doch der Wagen hielt stand – gefolgt vom Claim: „Polo – small but tough.“

Ein anderes Viral für die Marke Sprite spielte mit dem Thema Oralsex. „Wir haben alles gegeben, die Leute glauben zu machen, es handele sich um einen realen Werbespot“, sagt Regisseur Max Isaacson, der das Sprite-Video konzipierte. Die Reaktion überraschte ihn aber doch: Nach drei Wochen hatten 1,5 Millionen Nutzer das Video angeklickt. Isaacson bekam kalte Füße, nahm es aus dem Netz und entschuldigte sich gar öffentlich bei Coca-Cola. Nach dieser Erfahrung sei er „sehr vorsichtig“ bei der Konzeption neuer Videos geworden.

Fernando Motolese plagen solche Skrupel nicht: Video-Parodien seien doch gut fürs Geschäft. Er durchsucht regelmäßig Twitter-Nachrichten nach neuen Themen, zu denen er dann möglichst schnell Videos mit passender Musik produziert. Wenn Marken dabei dran glauben müssen, kümmert ihn das nicht. „Produktkritik und Werbung lassen sich zu Geld machen“, sagt Motolese. „Das ist jedenfalls Teil meines Business-Plans.“

Noch sind seine Gewinne bescheiden. Auf Telephone Freedom, einer Webseite mit Werbespots für billige Voice-over-IP-Dienste, hat er eine Kampagne eingestellt, die auf Telefonfirmen abzielt. Sie bringt ihm ein paar hundert Dollar im Monat ein. Motolese will jedoch mehr. Vor kurzem war er an einer Aktion beteiligt, die Tausende von amerikanischen Twitter-Nutzern dazu brachte, sich für die Rettung des Galvao-Vogels einzusetzen. Der Galvao war allerdings eine Erfindung. Das Video, das Motolese zu der Aktion beisteuerte, ist jetzt aber für den brasilianischen MTV Video Award nominiert. „Ich will berühmt werden. Ich will Millionär werden“, gibt Motolese unverhohlen zu.

Solche Sehnsüchte sind für Markenfirmen eine höchst asymmetrische Bedrohung. Wie wollen sie den Tausenden, Millionen von Möchtegern-Videostars überall in der Welt einen Schritt voraus sein? Eine Möglichkeit ist, sich auf das Spiel einzulassen. Old Spice, ein US-Hersteller von Pflegeprodukten, ließ zunächst in einem Spot einen Mann mit Schlafzimmer-Timbre für seine Produkte werben. Als dann Fans und Kritiker auf das Video reagierten, schickte ihnen „Old Spice Guy“, nur mit einem Handtuch bekleidet, seinerseits Videoantworten. Die Kampagne wurde viral: 142 Millionen Nutzer klickten die Spots auf Youtube an, und die Verkäufe der Firma zogen um 50 Prozent an.

Einige Markenfirmen testen bereits Parodien auf Konkurrenten. Ein Beispiel ist der getürkte Werbespot für „Cheeseburger Smoothies“. Damit wehrte sich Fruchtgetränke-Händler Jamba Juice dagegen, dass McDonalds im Juli eigene Smoothies – Drinks aus pürierten Früchten – in seinen Filialen einführte.

Das Video haben immerhin 400.000 Nutzer angeklickt. Seine Verbreitung war aber allerdings sorgfältig geplant. Dazu heuerte Jamba Juice die Firma Video Army an, die auf virales Marketing spezialisiert ist. Man habe Geld dafür ausgegeben, das Video prominent auf Comedy-Seiten zu platzieren, erklärt C.J. Bruce, CEO von Video Army. Er sieht die Kampagne als einen „kreativen Weg, um gewisse Fastfood-Ketten anzugreifen“. Doch seien die meisten Firmen noch nicht bereit, einander auf diese Weise zu kritisieren, geschweige denn auf Kritiker zu reagieren. „Große Unternehmen brauchen lange, um diese Ideen aufzugreifen“, sagt Bruce. „Sie neigen dazu, sich auf ihre eigenen Botschaften zu konzentrieren.“

Danone lehnte Motoleses großzügiges Angebot schließlich ab und zahlte nicht für dessen Activia-Parodie. Er halte Motolese aber nicht für einen schlechten Menschen, wiegelt Renato Fischer von Young & Rubicam ab. „Der Übeltäter in dieser Geschichte ist in Wirklichkeit das Internet“, sagt Fischer, „weil man keine Kontrolle mehr hat.“ (nbo)