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Was war. Was wird.

Muss man Schleim würgen, wenn der Kapitalismus endlich funktionieren darf, wie er eben funktioniert? Oder ist man schon auf dem Weg zur Heiligsprechung, wenn man vom gerechten Kapitalismus schwadroniert? Hal Faber kratzt sich fragend am Kopf.

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Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Schön war's am Montag, dem Schwarzen, als schlappe 800 Milliarden Dollar an den Börsen vernichtet wurden. Nur weil die Definition des Begriffes Börsenkrach verlangt, dass die Aktienkurse weltweit um 10 Prozent einbrechen, war es keiner. Podcastend beruhigt unsere Kanzlerin und spricht von Turbulenzen, die turboschnell vorüber sind. Doch manchmal ist eine Efflation nur Vorbote einer großen Emesis, um es vornehm zu sagen. In den USA ist die Hypothekenkrise mittlerweile in einem Stadium, in dem Wohlhabende aus Ärger über den Wertverfall ihre Hypotheken nicht bezahlen. In Großbritannien ist der Hypothekenmarkt kaputt, im bauwütigen Spanien stehen 700 Milliarden Hypothekenkredite auf der Kippe. Wie schön, dass Wettkönige Einzelfälle sind.

*** Schön war's am Montag, in München, wo Digital, Life, Design auch olfaktorisch eine Note hinterließen. Nokia hatte einen eigenen Stand und zeigte mit dem N77 ein Fernseh-Handy für das in Bayern nicht existente DVB-H, das garantiert nicht in Bochum gebaut wurde, wie am Stand eilfertig versichert wurde. Nokias Stratege Tero Ojanperä durfte erzählen, wie wichtig "das Internet" auf dem Handy ist, und Fragen zu Bochum waren nicht zugelassen. Markets Of Mobility heißt eben auch, dass man schnell mal mit dem Nokia-Village umziehen kann. Wo kämen wir denn hin, wenn der Kapitalismus nicht funktionieren dürfte, wie er funktioniert, komplett mit kleineren Verstößen. So mehren sich die Klagen, dass Nokia blind ist für den Image-Schaden, komplett mit Klagen über unproduktive Forscher. Doch wer blind ist, wird nicht auf Blinde hören.

*** Schön ist er, der digital Lifestyle, der nicht die Probleme der Blinden hat. Oder die von RollstuhlfahrerInnen, die Probleme mit dem Zutritt in das Laufhaus der Digerati haben – nur um dort eine bescheuerte Extremsportlerin erleben zu müssen, die Werbung für ein klebriges Dosengetränk macht und mit ärztlicher Kunst nach einem bescheuerten Sprung zusammengenagelt werden musste. "Und dann sprach sie davon, dass sie immer dachte, entweder sie lebt oder ist tot, aber niemals etwas zu erleben, was dazwischen ist – im Rollstuhl zu sitzen." Passend gesellte sich ein Konferenzvortrag dazu, der den Do-It-Yourself-Holocaust propagierte, die möglichst geschickte Auslese unwerten Lebens. Finanziert wird das Projekt vom jüdischen Google-Gründer Sergej Brin, beworben wird es von der jüdischen Star-Familie um Freeman Dyson und seinen Kindern Esther und George Dyson, allesamt feste Größen im Zirkus des Verlages, der mit Zuschnittmustern groß wurde. Hey, da muss man lachn. Mit'em Jaschtscherkes, oder qozn kotzn und, wenn eigentlich nichts mehr drinne ist, Schleim würgen. Damit bin ich fast schon in der Zukunft. Doch die Vergangenheit hält mich fest wie den Engel der Geschichte.

*** Bill Gates ist auf seiner Abschiedstour, diniert mit unser aller Kanzlerin, holt sich und seiner Gemahlin einen Doktortitel in Schweden ab und düst in die Berge, nach Davos. Kurzum, er ist auf dem besten Weg zu einem Heiligen. "Die Konzerne, lautet seine Botschaft, müssten Armen helfen, der eine Milliarde Menschen, die mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen müssen. Es schwingt dabei die Erkenntnis mit, dass die Regierungen allein das Problem der Armut nicht lösen können. Und dass nun jene, die vom Kapitalismus profitiert haben wie niemand sonst, ihren Beitrag leisten müssen." Fern liegt es mir nun, mit den Papieren zu rascheln oder nicht auf die schäbige Antwort hinzuweisen, die Gates' Mitstreiter zum ruhmreichen OS/2-Projekt parat haben. Dafür goutiere ich umso mehr die Rede, die unsere "bkin" eigens für his Billness zum Besten gab: "Wenn wir zum Beispiel an die Einführung der Gesundheitskarte in Deutschland denken, dann bedeutet sie sozusagen eine kulturelle Revolution im System des Gesundheitswesens, weil sich die Krankenkassen natürlich daran gewöhnt haben, dass keiner weiß, was sie tun, weil sich die Ärzte natürlich daran gewöhnt haben, dass keiner weiß, ob der Patient schon den dritten Arzt aufsucht, weil die Kassenärztlichen Vereinigungen – das ist jetzt schon etwas für Spezialisten des deutschen Gesundheitssystems – überflüssig werden, wenn Patient und Arzt plötzlich direkt mit der Krankenkasse kommunizieren können." Ich weiß nicht, wie diese Sätze im Kopfhörer des größten Bill aller Zeiten ankamen, zumal der Nerd nicht wissen konnte, von welchem Spielchen überhaupt die Rede war.

*** Immerhin hat "bkin" Merkel den großen Ton gefunden und davon gesprochen, dass Diktaturen und eine freie IT inkompatibel sind. Wie spricht die ehemalige EDV-Administratorin des demokratischen Aufbruches so schön zum Bundestrojaner, zur allgemeinen Bedrohung und zum Surfen außerhalb der Arbeitszeit: "In einem politisch-diktatorischen System führt dies zu einem Zielkonflikt. Auf der einen Seite muss darauf geachtet werden, dass die Bürgerinnen und Bürger eines Landes während der Arbeitszeit diese Fähigkeit erlernen. Auf der anderen Seite muss sichergestellt werden, dass diese Menschen nicht so mündig werden, dass sie beginnen, das System außerhalb der Arbeitszeit zu kritisieren." Erinnern wir uns, wie es vor 20 Jahren begann, mit dem Bröckeln. Und Havemann wandert, vollständig kommentiert, ins Internet aus.

Was wird.

Während bei der nächsten Bundestagswahl allenfalls bestimmt werden darf, ob man ein Merkel mit oder ohne Bart haben will, geht es in Hessen und Niedersachsen ordentlich zur Sache. Es ist eine richtige Schönheitswahl, meint die Süddeutsche Zeitung mit einem seltsamen Vergleich von Koch und Wulff mit einem alten Bekannten: "Anders als Bill Gates, der typische Computernerd, sind nun typische Politikernerds in Deutschland kaum zur Selbstironie fähig. Wenn man hässlich ist oder mindestens sonderbar aussieht, sollte man wenigstens manchmal darüber lachen können." Wer zuletzt lacht, weiß die Tagesschau oder spätestens verboten, das nicht Tagesschau heißen darf.

Schön wird es sein, am Dienstag, in Berlin, auf dem Europäischen Polizeikongress, am Ort, den die Chaos-Computerer so lieben, dass sie immerzu nach Videos von ihm dürsten. Europas oberster Innenminister Frattini wird reden und davon künden, wie Flugpassagierdaten im Kampf gegen den Terror helfen. Deutschlands rollender Innenminister Schäuble wird in dem ehemaligen sozialistischen Prachtbau reden und seine neue Bundespolizei über den blauen Klee loben. Dann ist da noch der virtuelle Innenminister und Sachbuchautor Dieter Wiefelspütz, der leider nur vorsitzen wird beim Panel "Policemen of the Future". Zum bekannt wirren Reden reicht es nicht, arbeitet er doch zurzeit an einem Buch über die Online-Durchsuchung von Festplatten, für die er jede wissenschaftliche Stellungnahme zu Online-Durchsuchungen lesen muss, vor denen nur SOA-Entwicklungsprinzipien und XML-fähige Datenbanken wirksam schützen. Weit kann Wifelspützer mit der Lektüre freilich nicht gekommen sein, wenn er behauptet, dass alle maßgeblichen Sicherheitsexperten für die Installation von Staatssicherheitsbytes sind, nicht nur die Krachledernen. So tanzt der Kongress, und IBM freut sich, mit seiner Integrated Intelligence den schönsten Messestand zu besitzen. Zu sehen dort der große Fortschritt, den die Fahndung nach Andersdenkenden seit den Tagen der Hollerith-Maschinen gemacht hat:

"Unter Nutzung der Softwareprodukte IBM Omnifind Enterprise, IBM Entity Analytics (EAS) und IBM Global Name Recognition (GNR) wurde ein integrierter, automatisierter Ablauf der Informationsanalyse realisiert: IBM Omnifind Enterprise analysiert unstrukturierte Textinformationen hinsichtlich begrifflicher Kategorien (z. B. Personen, Ereignisse, Fahrzeuge, Orte etc.) und extrahiert diese aus dem Text. IBM Entity Analytics gleicht anschließend die personenbetreffenden Informationen (Namen, Adressen und Merkmale wie Alter, Größe oder Haarfarbe) mit strukturierten Informationsquellen ab. Hierbei werden auch verwandte Merkmale und Synonyme (z. B. "dunkle Haare" statt "Haarfarbe braun") berücksichtigt. Neben der Analyse der Identität einer Person – also der Fragestellung, ob sich die Informationen auf ein und dieselbe Person beziehen oder nicht – ist das System auch in der Lage, Beziehungen zwischen mehreren Personen zu analysieren. IBM Global Name Recognition unterstützt speziell die Analyse des Namens als das wichtigste Merkmal natürlicher Personen. Die Lösung bietet eine Reihe von Funktionen, um sprachliche Ähnlichkeiten, unterschiedliche Schreibweisen und Umschriften, klangliche Ähnlichkeiten oder kulturelle Zuordnungen zu analysieren und auszuwerten. Dabei sind Namen aus über 200 Ländern und 15 Kulturkreisen berücksichtigt. Das Gesichtserkennungssystem FaceVACS-DBScan unterstützt Mitarbeiter von Polizeibehörden bei der Identifikation unbekannter Personen. In Sekundenschnelle können beispielsweise polizeiinterne Bilddatenbanken auf ähnlich aussehende Gesichter durchsucht und die 20 oder 100 Ähnlichsten ermittelt werden."

Selbst Demomaterial wird da sein, draußen vor dem Kongress. (Hal Faber) / (jk)