Gegrillte Mäuse, fliegende Turbinen

Versicherungen müssen wissen, warum technische Geräte kaputtgehen und wie teuer es wird, sie zu reparieren. Im Allianz Zentrum für Technik arbeiten deshalb professionelle Zerstörer - die aber hinterher konstruktive Vorschläge machen.

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Gegrillte Mäuse, fliegende Turbinen (10 Bilder)

Bild: Thomas Dashuber

Ehrenplatz für Trümmerstück: Industriebereich-Chef Lutz Cleemann vor den Resten einer Turbinenwelle aus dem Spitzenlastkraftwerk Irsching.

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Der frühe Morgen des 31. Dezember 1987 war für die Jahreszeit nicht einmal besonders kalt. Doch die null Grad Außentemperatur reichten, um die Bewohner des bayerischen Örtchens Irsching nahe Ingolstadt um den Schlaf zu bringen: Als das dort angesiedelte Spitzenlastkraftwerk angefahren wurde und der heiße Wasserdampf auf die kalte Niederdruckturbine traf, zerriss ihre Welle um 6.08 Uhr mit einem lauten Knall in 35 Bruchstücke; die Fliehkraft schleuderte ein 1300 Kilo schweres Stahlteil durch die Hallendecke 1,3 Kilometer weit auf einen Acker; verletzt wurde niemand.

Das größte Trümmerstück schaffte es noch weiter – per Lastwagen bis vor die Tür des Allianz Zentrums für Technik (AZT) in Ismaning bei München. Dort hat der mannshohe Monolith einen Ehrenplatz direkt vor dem Haupteingang gefunden. Er illustriert jedem Besucher, welche Folgen die sprichwörtliche Verkettung unglücklicher Umstände haben kann. Denn der spektakuläre Crash ging, wie die AZT-Ingenieure herausfanden, auf mehrere Ursachen zurück: Die Bruchzähigkeit des Materials lag am unteren Ende des Toleranzbereichs; gleichzeitig wurden Herstellungsfehler durch die falsche Interpretation eines Ultraschall-Befunds nicht erkannt; die niedrige Außentemperatur tat ein Übriges – zum Zeitpunkt der Explosion war der Außenbereich der Welle 15 Grad wärmer als ihr Kern.

Für eine Versicherung stellen sich in solchen Fällen eigentlich nur zwei Fragen: "Müssen wir zahlen?" und "Müssen wir die Prämien für ähnliche Anlagen erhöhen?" Doch in den 1920er-Jahren kam die übliche Versicherungslogik an ihre Grenze. Der Maschinenpark der deutschen Industrie war wegen des Ersten Weltkriegs und der Wirtschaftskrise derart marode, dass die Risiken kaum noch kalkulierbar waren. Und was sich nicht kalkulieren lässt, lässt sich auch nicht versichern. "Die Frage war damals: Steige ich aus dem Geschäft aus, oder versuche ich, die Situation zu ändern?", erzählt Lutz Cleemann, Leiter des Industriebereichs des AZT.

Die Allianz beschloss, den zweiten Weg zu gehen. Als erste Maßnahme schafften die Techniker eines 1925 aufgebauten Ingenieurbüros ein Mikroskop an. Das war die Geburtsstunde der systematischen Schadensanalyse und inoffizieller Gründungsakt des AZT.

Seitdem hat das Zentrum rund 40 000 Schäden untersucht. Viele von ihnen sind in den Fluren und Treppenhäusern des Siebziger-Jahre-Baus in Ismaning wie avantgardistische Skulpturen ausgestellt. Im Foyer etwa erzählt eine versengte, in Kunstharz gegossene Maus vom Prinzip "kleine Ursache – große Wirkung": Das Nagetier hatte ein Kabel an einem Trafo angeknabbert und so einen Brand verursacht, der die Versicherung 30 Millionen Euro kostete.

Gleich nebenan zeigt ein verkohlter Rollstuhl die möglichen Konsequenzen einer gelockerten Batterieklemme. An den Wänden verbreiten Mikroskopaufnahmen von Rissen und Brüchen in Metall die morbide Ästhetik des Versagens. Diese Tücken der Objekte untersuchen die AZT-Ingenieure heute mit einer ganzen Armada an Methoden – von der Atomabsorptions-, Emissions- und Infrarotspektroskopie über Rasterelektronenmikroskopie und Röntgenfluoreszenz bis hin zur Thermografie.

Die Erkenntnisse dienen in der Regel dazu, vor Gericht millionenschwere Regressansprüche durchzusetzen oder abzuwehren. Ein Beispiel dafür ist ein Streit um einen undichten Verteilerkasten für einen Gas-Zwischenbehälter. Nach zahlreichen erfolglosen Umbauten beauftragte der Hersteller das AZT, die Ursache für die Probleme zu finden. Mit dem Rasterelektronenmikroskop entdeckten die Techniker, dass die Schweißnähte fehlerhaft waren – ein klarer Fall von Herstellerhaftung, wie es schien. Doch als die Ingenieure die Druckverhältnisse im Gaskasten mit der Finite- Elemente-Methode nachmodellierten, stellten sie fest, dass der Kasten zu klein ausgelegt war und zu hohem Druck standhalten musste. Wäre er großzügiger konstruiert gewesen, hätte er selbst mit schadhaften Schweißnähten gehalten. Der Hersteller war aus dem Schneider, der Konstrukteur musste die Konsequenzen tragen.