Was war. Was wird.
In der Wochenschau hört Hal Faber das Gras wachsen - und findet statt Menschenrechten die Light-Kultur, New-Economy-Pleitiers und Yetis.
Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.
Was war.
*** "Grabe, wo du stehst" – klingt komisch, war aber, verdammt lang her ist das, eine Parole von Historikern, die "Geschichte von unten" anzupacken, bei den einfachen Leuten, weitab von den Taten gekrönter Häupter und wichtiger Politiker. Also nicht "Mit Jürgen W. Möllemann vom Himmel fallen", wie mir das in dieser Woche eine Website namens Handwerk.com in dutzendfacher Ausfertigung in die Mailbox stopfte. Der Erfolg fällt nicht vom Himmel, aber Jürgen W. Möllemann, der Jung-Bobos fördern möchte: "Bei mir lernen Existenzgründer fliegen". Auch wenn sie sich vielleicht nur wie ein Care-Paket in die Erde bohren: Möllemanns Kampagne soll ein durchschlagender Erfolg werden, schreibt die PR. Nein, die Geschichte von unten zeigt uns, dass man überall graben kann: Jeder Leser kann jetzt mit einer Schaufel bewaffnet vor die Haustür treten und loslegen. Vielleicht findet er die deutsche Light-Kultur von Herrn Merz. Oder die Verkündung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, abgeliefert in Rom am 4. November 1950. Nicht gefunden? Das scheint an der Grabungstechnik zu liegen: Im Radio betonen gerade Politiker aller Coleur, dass die Verkündigung den Boden bildet, auf dem sich alle Deutschen bewegen.
*** In den USA ist die Bodenbeschaffenheit anders, die Demokratie sowieso. Am 7. November wird dort gewählt, und eigentlich müsste jeder Netizen mit US-Wahlberechtigung den Vater des Internet krönen. Al Gore hat tatsächlich was für das Internet getan, Bill Gates aber noch mehr: Microsoft unterstützt die Website Youth-e-Vote, auf der junge Leute abstimmen können und so "lebendige Demokratie von unten" kennen lernen, wie Microsofts PR-Agentur das feierte. Wählen konnten die Jugendlichen bislang nur zwischen Bush und Gore, Ralph Nader ließ man praktischerweise gleich weg. Nun gibt es einen Menschen, den Gates, Ballmer und der Rest von Microsoft liebend gerne unter der Erde sähen: Larry Ellison. In der letzten Woche wäre das beinahe passiert. Am Donnerstag berichteten Medien von Gerüchten, dass Ellison gestorben sei. Prompt fiel die Aktie von Oracle in den Keller, in Panik wurden Oracle-Aktien im Werte von 149 Millionen Dollar verkauft. "Wenn Bill Gates stirbt, bricht sicherlich die Börse zusammen", kommentierte ein Banker den Rutsch von Oracle. Wo wir uns knapp entfernt von den Darwin Awards tummeln: Cyber-Guru Nicholas Negroponte stürzte dieser Tage von der Treppe und brach sich die Kinnlade und einen Backenknochen. Dennoch will er als Keynoter auf einer Reihe von teuren Konferenzen auftreten und mit Gebärden das Neueste aus Digitalien verkünden. "Man muss daran glauben, dann geht alles", verkündet die PR-Stelle des Meisters.
*** Mitunter reicht allerdings der beste Glaube nicht aus. iBelieve.com schloss letzte Woche die Portale und schrieb zum Abschied die bewegenden Zeilen "Unser Gebet ist es, dass Gott der Herr iBelieve genutzt hat, um Ihr Leben zu berühren und einen neuen Sinn zu geben." Gott der Herr hat im Internet dieser Tage viel zu tun, schließlich ist er CIO (Christmas Illumination Officer) der X-Mas 2000, wie mir ein CEO (Christmas Event Organizer) namens Christus mitteilte. Zusammen mit seinem Co-Head Global Christmas Markets (The Artist formerly known as Knecht Ruprecht) möchte dieser Startup die Geschenk-Distribution über Private Schenking Centers zu einer neuen Form des Christian Branding führen, das Core-Competences deutlich updated. Wer diesem Ansatz nicht traut, sollte einfach bei http://www.outofbusiness.com vorbeischauen.
*** Und wo wir schon out of business sind: Unter meinen Lesern gibt es solche, die so lange graben, bis sie ein besonders schlammiges Stück Erde gefunden haben und das werfen, wenn das Wort Bobo auftaucht. Dabei gibt es noch viel seltsamere Vorschläge, unsere Helden der New Economy mit einem besonderen Titel zu versehen. Wie wär's mit Boboru: Dieser sanfte Anklang an den Liebesruf eines hirnkranken Rüsselschweins, auf der Basis des boboistischen Wolkenkuckuckheims. Ins Gespräch gebracht hat dies vor einiger Zeit eine Website, die sich den "Horror Stories of Working the Web" widmet. Wen die Netslaves als Burned out, but optimistic (for reasons unknown) bezeichnen, der hat wohl wirklich nichts mehr zu lachen. Also bleiben wir doch beim Bobo? Bevor jetzt die ersten Dreckklumpen fliegen: Gemach, gemach! Vielleicht ersetzen wir hier auf [ heise online] den Bobo durch das Yeti, das Young Entrepreneurial Tech-based Individual. Politisch korrekt geschlechtsneutral wurde das Yeti bei uns in Hannover anlässlich der micro.tec 2000 vorgestellt und vom Siemens-Vorstand Heinrich von Pierer in den höchsten Tönen gelobt. Wenn Siemens an den Yeti glaubt, hat der Bobo ausgespielt und muss in die hohen Berge fliehen. Aber seine CRM wird furchtbar sein!
*** Mit CRM hat eine andere Bobo-Sippe momentan so ihre Schwierigkeiten. Die Investoren drängeln, endlich sollte doch mal langsam Geld in die Honigtöpfe der New Economy zurückfließen – stattdessen verbrennt Napster Dollar um Dollar in endlosen Prozessen. Aber Parzival Middelhoff auf der Suche nach dem heiligen Gral der Neuen Medien naht in weißer Rüstung und schmeißt gleich noch ein paar Dollars hinterher: Schluss mit lustig, jetzt wird bezahlt. Aber das Fußvolk will nicht mitspielen, schließlich enthält der Gral immer noch der Zaubertrank gegen die böse Old wie die grausige New Economy. Aber Parzival entpuppt sich als Ober-Bobo und sein endlich gefundener Gral als gut getarnte, von langer Hand vorbereitete Geldmaschine; Customer Relationship Management bekommt eine ganz neue Bedeutung: Die Protagonisten des rechtsfreien Internet dürften sich ganz schön umsehen, wenn die Relationship ganz schlicht durch die Staatsanwaltschaft gemanaged wird, und zwar wie das Klauen von CDs bei WOM. Es wächst halt wieder einmal zusammen, was zusammen gehört – man darf beim Graben nur nicht vergessen, auch noch das bisschen Gras wachsen zu hören.
*** Manche Rächer der Nacht hören zwar das Gras wachsen, aber an der falschen Stelle: Vielleicht sollten manche von ihnen kurz nachdenken, bevor sie mit dem Rächen anfangen. Oder schreibt wenigstens die richtige URL ab! Derzeit geht die kleine Firma CRC Publishing Company-Eagle Rock Books baden, zu finden unter crcpub.com. Zornige Netizens bombardieren den Verlag, der auf Minderheitenliteratur spezialisert ist. Der Zorn gilt freilich der CRC Press, zu finden unter crcpress.com. Dieser Verleger brachte unlängst die Concise Encyclopedia of Mathematics heraus, geschrieben von Eric Weisstein. Im Zuge des Autorenvertrags beansprucht nun die CRC Press die Rechte der Website des Autors, bekannt unter dem Namen Eric's Treasure Trove. Diese Website war unter http://mathworld.wolfram.com lange Jahre der Informationspool schlechthin für Algorithmen aller Art. Das war einmal. Eric Weisstein hat einen Vertrag unterzeichnet, der alle Websites des Autors zum Eigentum des Verlages erklärt. Nun bemüht sich CRC Press, recht bekannte Algorithmen ihrem Fundus zuzuordnen. Und die Indianer leiden.
Was wird.
Die Firma IdentAlink gehört, PR-technisch gesehen, zu den besonders regen Exemplaren. Sie bietet eine Software namens Facemail an, die PGP und andere Techniken obsolet machen will. IdentAlink verschickt laufend verschlüsselte News aus der Welt der Biometrie, die mangels Facemail nach /dev/null rauschen. Man verschlüsselt einfach mit seinem Gesicht, basta! Wie man ein Gesicht entschlüsseln kann, ist nächste Woche Thema einer Tagung der Datenschützer, die in Schwerin stattfindet. Das automatische Destillieren einer bedrohlichen Geste aus einem Videofeed will schließlich genauso gelernt sein wie die Suche nach Wortmustern, die das antiquierte Echelon bekannt machte. In Schwerin stellen die Polizeibehörden aller Bundesländer ihre Ansätze zu biometrischen Videoüberwachung vor.
Immerhin finden zum Wochenende hin in Amsterdam die Doors of Perception statt. Dieses Jahr ist das Thema die Lightness, das Leichte, Schwebende. Wenn wir nicht graben können, dann wollen wir fliegen. Wir aber schleppen uns über die Systems, die am Montag anfängt und uns mit all den üblichen Bobo-Themen quält: M-Commerce, E-Business, Neue Medien. Aber vielleicht verhagelt die nächste Pleite am Neuen Markt den aufstrebenden Startups, deren Server vor lauter Wagniskapital nicht laufen können, die schöne neue Welt. (Hal Faber) / (jk)