Geheimakte BND & NSA: Grundrechte adé – die "Funktionsträgertheorie"

Um bei der Auslandsüberwachung nicht dauernd prüfen zu müssen, ob die Zielpersonen Deutsche und mindestens damit vor den Spionen geschützt sind, hat sich der BND eine haarsträubende Theorie zurechtgelegt. Trotz aller Kritik wurde sie nie zurückgezogen.

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Geheimakte BND & NSA: Grundrechte ade – die "Funktionsträgertheorie"
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Inhaltsverzeichnis

2008 schon schlug ein Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel Wellen, dass der Bundesnachrichtendienst jahrelang ein Büro der Deutschen Welthungerhilfe in Afghanistan überwachte. Gegenüber den Entwicklungshelfern habe der BND eingeräumt, hatte es damals geheißen, im Zeitraum von Oktober 2005 bis April 2008 den E-Mail-Verkehr des "Afghanistan NGO Safety Office" (ANSO) zum Teil mitgelesen zu haben. Die Welthungerhilfe leitete die von der EU finanzierte zivilgesellschaftliche Institution, die Erkenntnisse der ansässigen Hilfsorganisationen bündelt.

Im Zeitraum der Spionageaktion stand Ingeborg Schäuble, Frau des damaligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble (CDU), der Welthungerhilfe vor. Der Meldung zufolge stuft der Auslandsgeheimdienst die Kabuler Kommunikation der ANSO seit 2008 nunmehr aber als "grundrechtlich geschützt" ein. Zumindest dürfe diese nicht mehr verwertet werden.

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Geheimakte NSA-Ausschuss

Der NSA-Ausschuss des Bundestags beleuchtet seit 2014 die Überwachungspraxis vor allem der deutschen Geheimdienste und macht dabei auch die Verschleierungsversuche der Regierung deutlich. heise online blickt in einer ausführlichen Serie zurück.

Die einzelnen Kapitel erscheinen im Wochenrhythmus und zwar in der folgenden Gliederung:

Sechs Jahre später erläuterte ein BND-Mitarbeiter die Hintergründe der Operation im NSA-Untersuchungsausschuss und führte die Abgeordneten erstmals in eine weitere umstrittene Rechtsinterpretation ein. Die ANSO-Mitarbeiter seien von hausinternen Juristen als "Funktionsträger" eingestuft worden, befand mit T. B. im November 2014 ein Agent, der von 2002 bis 2007 am Horchposten in Bad Aibling beschäftigt und dort unter anderem für die Zusammenarbeit mit der NSA zuständig war. Auch bei Grundrechtsträgern, die insbesondere durch das Fernmeldegeheimnis in Artikel 10 geschützt sind und deren Rechte nur in Ausnahmefällen nach dem sogenannten G10-Gesetz beschnitten werden dürfen, werde in diesem Sinne ihre Funktion als Angehöriger einer abhörbaren Einrichtung höher bewertet als der Schutz der Privatsphäre.

Pech habe etwa der deutsche Geschäftsführer einer ausländischen Firma, der eine zugehörige Niederlassung in der Bundesrepublik leite, meinte T. B. Die Daten aller, die nicht zum Kreis der Grundrechtsträger zählten, seien "zum Abschuss freigegeben". Ein gewisses Ziel müsse aber dahinter stecken, ergänzte der Zeuge rasch, nachdem viele der Ausschussmitglieder ihre Stirn runzelten.

Auf Nachfrage zu möglichen Einschränkungen fügte T. B. noch an, dass der Datenschutz laut Grundgesetz prinzipiell universell gültig und etwa auch ein Taliban-Kommandeur entsprechend zu behandeln sei: Dies bedeute, dass BND-Spione über einen verdächtigen Ausländer Informationen zunächst zwar speichern dürften, aber dann regelmäßig prüfen müssten, ob die Voraussetzungen vorliegen, um diese weiter aufzubewahren. Abgehört und analysiert werden darf also nach allen Regeln der Kunst, eine Art ewige Vorratsdatenspeicherung ohne guten Grund ist aber untersagt. Hoch sind die Hürden dafür bei Ausländern aber nicht.

Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.
Artikel 10 Grundgesetz

Stefan Burbaum, einstiger Sachgebietsleiter im Bereich Technische Aufklärung für juristische Fragen beim BND, lichtete wenige Wochen später weiter das Dunkel rund um die "Funktionsträgertheorie", wonach Grundrechtsträger wie eine "juristische Person", also etwa wie eine Firma behandelt und ohne großes Federlesen ausgespäht werden dürfen. Der mittlerweile im Bundesinnenministerium arbeitende Rechtsexperte drückte dies sehr gestelzt aus:

"Wenn tatsächlich eine Kommunikation einer juristischen Person zuzuordnen ist, also die juristische Person selbst kommuniziert, dann ist in der Tat die Frage des Funktionsträgers – na ja, er kommuniziert dann nur für die juristische Person am Ende. Dann ist also entscheidend: Ist am Ende die juristische Person eine inländische oder eine ausländische?"

Wer für Siemens arbeitet, ist demnach auch im Ausland geschützt und darf nur unter hohen Auflagen abgehört werden. Andersherum greift das Fernmeldegeheimnis laut diesem BND-Konstrukt nicht mehr, wenn etwa ein Deutscher für einen ausländischen Konzern wie Boeing, Google oder Microsoft spricht. Die Folgen suchte Burbaum auf Fragen des Grünen Hans-Christian Ströbele hin zunächst kleinzureden, musste dann aber doch zugeben, dass die These vergleichsweise häufig angewendet werde und demnach recht viele Grundrechtsträger davon betroffen seien.

Ströbele: Wenn jemand für eine Institution – sage ich mal, NGO, Firma oder so was, eine ausländische – kommuniziert, dann ist er erst mal bei Ihnen gespeichert, und dann gehen Sie nachher mit um?

Burbaum: Wenn diese ausländische juristische Person im nachrichtendienstlichen Profil drin ist, kann das passieren.

Ströbele: Kann das passieren. Und wie häufig passiert das?

Burbaum: In meiner Erinnerung so gut wie nie; denn diese – also, es kann in Ausnahmen sein; da haben Sie recht.. Gerade im Proliferationsbereich kommt das relativ häufig vor, dass Sie ausländische Firmen haben, die irgendwelche proliferationsrelevanten Dinge liefern. Das sind alles Kommunikationen von juristischen Personen. Insofern ist das kein ungewöhnlicher Fall, dass eine Kommunikation einer juristischen Person zuzuordnen ist. Immer in diesem Fall kommt dann dieser Funktionsträgergedanke zum Tragen.

Konkret heißt Letzteres: Auch ein Deutscher und andere eigentlichen Grundrechtsträger dürfen ohne konkreten Verdacht überwacht werden, was eigentlich laut dem G10-Gesetz zur Einschränkung des Telekommunikationsgeheimnisses nicht sein darf. Außer Kraft gesetzt wird mit der "Theorie" auch die Vorgabe, dass der BND Inhalts- oder Verbindungsdaten von Grundrechtsträgern aussortieren und löschen muss, wenn er sie mehr oder weniger zufällig als "Beifang" von Überwachungsmaßnahmen erhebt.

Verkompliziert wird die Sache damit, dass der G10-Schutz doch wieder greifen soll, sobald der "Funktionsträger" privat kommuniziert, also etwa mit seiner Frau über nicht-geschäftliche Dinge. Schwierig nur, zwischen privat und offiziell zu unterscheiden, wenn die Gattin Staatssekretärin im Bundesinnenministerium ist wie Emily Haber. Ihren Mann, den langjährigen Diplomaten Hansjörg Haber, hatte der BND Berichten zufolge im Visier, als dieser im September 2008 eine Beobachtermission der EU in Georgien antrat und in dieser Funktion bis 2011 etwa mit nationalen oder auch russischen Politikern kommunizierte.

Eigentlich hätte die G10-Kommission des Bundestags die Abhöraktion gegen Haber genehmigen müssen. Einen entsprechenden Antrag hatte der Auslandsgeheimdienst aber offenbar gar nicht gestellt, da er auf die Funktionsträgertheorie vertraute. Letztlich löste der hoch aufgehängte Fall großen Unmut in Berlin aus, nachdem Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) seinem Krisenmanager im Kaukasus beim Antritt der Mission noch versichert hatte, "dass die Bundesregierung Sie stets nach Kräften unterstützen wird".

Generell stellte sich Berlin aber hinter die Funktionsträgertheorie: Grundrechte wie das Fernmeldegeheimnis "finden keine Anwendung auf ausländische juristische Personen" wie etwa Unternehmen oder vergleichbare Institutionen, erklärte ein Sprecher der Bundesregierung im Dezember 2014 laut Netzpolitik.org. Dies sei "unabhängig von der Staatsangehörigkeit des kommunizierenden Mitarbeiters".

In leichter verständlicher Sprache bedeutet das: Ist ein Deutscher bei einer ausländischen Firma im Ausland angestellt, kann er sich nicht auf Artikel 10 berufen. Bedingung ist, dass er "in seiner Funktion" etwa als Geschäftsführer des Unternehmens kommuniziert. Entsprechende Äußerungen werden dann der abgehörten "juristischen Person" zugerechnet.

Der frühere Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar twitterte nach derlei Äußerungen von BND- und Regierungsseite, dass nach der "abenteuerlichen" Funktionsträgertheorie der Auslandsgeheimdienst sogar den deutschen EU-Digitalkommissar Günther Oettinger abhören dürfe, solange er sich qua seines Amtes mit Dritten austausche. Ein anderer BND-Agent räumte im Ausschuss später ein, dass dies theoretisch auch für Bundeskanzlerin Angela Merkel gelte, wenn sie als Amtsträgerin kommuniziere.

Harald Fechner, langjähriger Leiter der Technische Aufklärung beim Bundesnachrichtendienst, erkannte im März 2015 vor den Volksvertretern an, dass es "Unschärfen" und "Graubereiche" rund um die Befugnisse des Auslandsgeheimdienstes etwa bei der "Funktionsträgertheorie" gegeben habe. Der Aufklärungsarbeit der Behörde fehle teils die rechtliche Grundlage, gestand der Praktiker in Bezug auf die ungeregelte Überwachung von Ausländern ein.

Wenn die BND-Tätigkeit in anderen Staaten aber "im rechtsfreien Raum stattfindet, kann es wohl kaum Grenzen und Hürden gegeben haben, die von BND-Mitarbeitern überschritten wurden", meinte Fechner. Auf jeden Fall beförderten "nicht mehr zeitgemäße Gesetze mit weitem Interpretationsspielraum unterschiedliche Rechtsauffassungen", die von "akademisch" bis "scheinheilig" reichten.

Die Politik müsse daher dringlich über die Unverletzlichkeit des Fernmeldegeheimnis und des Sicherheitsbedürfnisses debattieren und beide Bereiche austarieren, forderte der Elektrotechniker. Er ermahnte den Gesetzgeber: "Überlegen Sie sich, was für Grenzen Sie zu setzen haben." Sollten die Abgeordneten dabei das Kind mit Bade ausschütten und die hiesige Fernmeldeaufklärung mit offensichtlichen NSA-Verstößen und Wirtschaftsspionage in einem Topf werfen, würde dies "sicher andere Geheimdienste erfreuen". Die Welt würde indes nicht am deutschen Wesen genesen.

Staatsrechtler Matthias Bäcker erklärte das BND-Konstrukt, bestimmte Menschen als Funktionsträger abseits der Grundrechte überwachen zu dürfen, auf einer Konferenz kritischer Informatiker für "großen Schwachsinn". Als Sachverständiger hatte der Jurist zuvor zu Beginn der Arbeit des Untersuchungsgremiums im Einklang mit zwei anderen Verfassungsrechtlern konstatiert:

"Es gibt keinen überzeugenden Grund für die Annahme, dass eine Telekommunikationsüberwachung im Ausland nicht unter Artikel 10 fallen soll – was dazu führt, dass diese Auslandsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst nach gegenwärtigem Recht unzulässig ist und die entgegenstehende behördliche Praxis rechtswidrig ist."

Bäcker befand weiter: "Diese Unterscheidung zwischen in- und ausländischen Kommunikationsteilnehmern, was den Schutzbedarf und die Schutzwürdigkeit angeht, ist nicht tragfähig." Wolfgang Hoffmann-Riem, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgerichts, hielt ebenfalls fest, dass "die hier betroffenen deutschen Kommunikationsgrundrechte nicht auf den Schutz Deutscher", der Schutzbereich auch nicht territorial auf die Bundesrepublik begrenzt sei. Der einstige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, stellte kategorisch klar: "Artikel 10 schützt als Menschenrecht und damit gemäß seinem weiten personellen Schutzbereich nicht nur Deutsche, sondern auch Ausländer."

"Missing Link"

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Anfang 2015 kritisierte auch die Bundesdatenschutzbeauftragte Andrea Voßhoff die Funktionsträgertheorie und die Praktiken zur Auslandsaufklärung des Bundesnachrichtendienstes scharf. Die These des Geheimdienstes, wonach er unter gewissen Umständen deutsche Grundrechtsträger im Ausland ohne gezielte Anordnung nach G10-Gesetz ausforschen darf, ist laut der CDU-Rechtspolitikerin "nicht verfassungskonform". Dies berichteten "Süddeutsche Zeitung (SZ)", "NDR" und "WDR," die sich auf eine Stellungnahme der Bundesdatenschutzbehörde an die G10-Kommission des Bundestags bezogen.

Für Voßhoff lassen die Zeugenaussagen im Ausschuss vermuten, dass der BND mit seiner Theorie einer "überkommenen Vorstellung" anhänge. Eigentlich müsste auch für den Geheimdienst die Maxime gelten: "Im Zweifel für den Grundrechtsschutz". Der BND meine aber offenbar: "Im Zweifel für die Erfassung." Das in Artikel 10 Grundgesetz festgeschriebene Fernmeldegeheimnis mache keinen Unterschied zwischen privater, geschäftlicher oder politischer Kommunikation.

Der Geheimdienst und die Bundesregierung wollten trotzdem an der Praxis weitgehend festhalten, hieß es zugleich. Deutsche, die für einen diplomatischen Dienst in Europa arbeiteten oder an internationale Organisationen abgeordnet würden, sollten aber nicht mehr überwacht werden. (mho)