Selbstentzünder

Meinung: Gewurschtel in der Dieselkrise

Politik, Lobbyverbände, Industrie und auch Medien spielen in Betrug von Abgaswerten ein übles Spiel - auf Kosten der zunehmend verunsicherten Verbraucher. Die Agenda der Akteure ist unterschiedlich, das Ergebnis aber ein gesellschaftlich geradezu dramatischer Schaden

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Von
  • Martin Franz
Inhaltsverzeichnis

Zeiten vor Wahlen sind Zeiten seltsamer politischer Auswüchse. Das gilt global wie national. In den USA mahnt der oberste Hetzer ganz ernsthaft bei den Medien einen „zivilisierten Ton“ an und darf erwarten, dass dies bei den Anfang November anstehenden Wahlen keinen Niedergang bringt. In Deutschland ist in der kurzen Pause zwischen der Wahl in Bayern und der in Hessen die Nervosität förmlich zu greifen. Als zusätzliches Aufputschmittel dient das Urteil zu einem möglichen Fahrverbot in Mainz. Hektisch versucht man nun, mit reichlich Aktionismus Wähler vom eigenen Handlungswillen zu überzeugen, unterstützt von Umfragen, die betonen, dass sich immer mehr Wähler immer später entscheiden. Die Angst vor Populisten ist inzwischen so mächtig, dass den Verantwortlichen gar nicht mehr bewusst zu sein scheint, was sie da anrichten. Denn der Schaden reicht bis über den kommenden Sonntag hinaus.

Gericht gibt Richtung vor

Wieder hat ein Gericht mit einem geradezu salomonischen Urteil den Ball zurück ins Feld der Politik gespielt. Das Verwaltungsgericht in Mainz hat den Luftreinhalteplan der Stadt für unzureichend erachtet. Die Stadtoberen hatten argumentiert, dass sie die von der EU beschlossenen Grenzwerte von maximal 40 Mikrogramm Stickoxid (NOx) je Kubikmeter bis Ende 2019 einhalten würden. Den Richtern ging das nicht schnell genug. Sie ordneten einen nachgebesserten Luftreinhalteplan an, der bis April 2019 vorliegen muss. Der muss dann enthalten, dass für den Fall einer Überschreitung der Grenzwerte im ersten Halbjahr 2019 ab September nächsten Jahres ein Fahrverbot für alte Diesel kommt.

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) frohlockt, sieht sie sich doch als Gewinner dieser Auseinandersetzung. Wohl nicht ganz zu Unrecht, wobei man sich darüber streiten darf, wie groß der Triumph angesichts der Tatsache ist, dass die Einhaltung nur ein paar Monate früher erfolgen soll. Zumal sich alle Beteiligten darüber einig waren, dass etwas passieren sollte. Wie andernorts kann auch die Stadt Mainz darauf bauen, dass die Zeit für sie arbeitet. Die Belastung der Stadtluft mit NOx sinkt seit vielen Jahren, wenn auch nicht so schnell wie von einigen gewünscht.

Hektische Reaktion

Auf der politischen Bundesebene werden die Aktivitäten hektischer. Dem Ende September endlich vorgelegten Plan folgt nun ein weiteres Maßnahmenpaket – punktgenau ein paar Tage vor zur Schicksalswahl medial hochstilisierten Entscheidung um den nächsten Langtag in Hessen.

In einer sich beschleunigenden Medienwelt, in der täglich dutzende von Nachrichten Aufmerksamkeit suchen, lohnt es sich, den jüngsten Vorstoß der Union etwas reifen zu lassen. Es gibt einen NOx-Grenzwert, er liegt bei 40 Mikrogramm je Kubikmeter. Städte dürfen diesen Wert an wenigen Tagen pro Jahr überschreiten. Die Union argumentiert nun nicht etwa gegen den Grenzwert an sich, aber eigentlich gilt der ein wenig irgendwie meistens mehr oder weniger vielleicht doch nur so ungefähr. Ein bisschen mehr, nämlich alles unter 50 Mirkogramm, würde Fahrverbote nicht rechtfertigen. Das kann man so sehen, doch es wird interessant zu beobachten sein, wie das in einem juristisch sturmfesten Gesetz formuliert wird. Nach der Wahl in Hessen, versteht sich.

Gewurschtel

Und so geht das schon seit Jahren. Was fehlt, ist ein klug ausgearbeiteter Plan, der langfristig wirkt und diese Angelegenheit aus der tagesaktuellen Hektik herausnimmt. Allerspätestens seit dem Urteil von Leipzig, das Fahrverbote als letztes Mittel im Februar 2018 für zulässig erklärt hat, hätte es eines solchen Plans bedurft. Doch davon ist nichts zu erkennen. Was stattdessen wahrzunehmen ist, ist ein panisches Gewurschtel, getrieben von der Angst, es sich ja nur nicht mit einer relevanten Zahl der Wähler nachhaltig zu verderben. Dabei geschieht genau das, was befürchtet wird: Ein gewisser Prozentsatz hat die Nase von dieser Planlosigkeit gründlich voll.

Nachlässe auf Neuwagen sollen ein Mittel für einen raschen Flottentausch sein. Doch wer einen Euro-4-Diesel fährt, tut das meistens wohl auch, weil er sich einen Neuwagen nicht leisten kann. Wie abgehoben ist die Vorstellung, dass jeder die realen Kosten eines Neuwagen tragen kann, wenn diese nur um ein paar Tausend Euro geringer ausfallen würden? Für viel Steuergeld wird hier wenig erreicht, was nur deshalb keinen Aufschrei gibt, weil Steuergeld eben gerade reichlich da ist. Falls sich jemand fragen sollte, wo Politikverdrossenheit ihre Wurzeln hat: Es ist diese Art zu denken und letztlich auch zu handeln, die schon Jean-Jacques Rousseau 1766 mit seinem berühmten Zitat anprangerte. Wenn die Armen kein Brot haben, sollen sie halt Kuchen essen.