Große Windschilder am Motorrad funktionieren einfach nicht

Klartext: Wind ohne Schild

Grundsätzlich ist der Gedanke verständlich: "Ich baue eine große Scheibe an das Motorrad, schließlich haben das Cabrios auch." Doch das Cabrio fährt man ohne Helm, und mit Helm funktionieren diese riesigen Tourenscheiben einfach nie besonders gut

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Von
  • Clemens Gleich

Einer der schönsten Aspekte des Reisens auf dem Motorrad ist die schnelle Bewegung durch das Medium Luft. Du fährst über eine brütend heiße Hochebene. Die Luft kommt wie aus einem Fön. Sie riecht nach Staub und Steinen. Kurz darauf wirft sich die Straße durch ein kühles Tal im Wald. Die Luft ist dichter. Es riecht nach Pflanzen in allen Stadien ihres Kreislaufs von Werden und Verfallen. In der Luft schweben noch gröbere Dinge als Gerüche.

Am Ende eines Tages im Sattel kann ich Dieselruß, Pollen oder Steinstaub aus meinem Gesicht schaben. Flugsamen stecken im Helmpolster. Steine fallen von oben oder ein Vorfahrer wirbelt sie dir in die Durchflugzone. Insekten spraddern auf die Jacke. Wenn Leute mir empfehlen, ich solle doch nur noch Rennstrecke fahren, denke ich immer: Den Luftwandel würde ich beim Kreise fahren schon vermissen, zusammen mit den anderen Aspekten der Fortbewegung durchs kurvige Hinterland.

Einspur-Cabrios

Die Erfahrung der Luft ist recht subtil. Ein Windschild macht sie schon zum großen Teil zunichte. Deshalb unterscheidet sich das Cabriofahren selbst geradeaus so sehr vom Motorradfahren, dass im abschätzigen Spruch „da kann ich ja gleich ein Cabrio fahren“ gegenüber Touren-Fulldressern ein Körnchen Wahrheit steckt.

Wenn Hersteller dem Touring-Publikum ein Windschild bauen, dann stellen sie dieses sehr steil und hoch, damit es bei den typisch niedrigen Geschwindigkeiten kurviger Strecken den Wind möglichst vollständig vom Fahrer abhält. Das funktioniert jedoch bei schneller Fahrt nicht mehr so gut. Hohe, steile Windschilder erzeugen an der Oberkante einen Abrisswirbel, der aus dem ebenso unangenehmen Unterdruck hinter dem Schild resultiert. Der Abrisswirbel hämmert gegen den Helm. Der Unterdruck zieht den Kopf nach vorne.

Die Hersteller reagierten. Windschilder sind heute funky geformt und hinterlüftet, damit der Wirbel sich in Grenzen hält. Die Physik bleibt jedoch erhalten: ein steiles Schild wird wirbeln. Um bei einem steilen Windschildwinkel genug Luft dahinter zu kriegen, dass Verwirbelungen und Unterdruck klein genug werden, müssten die Hersteller ein Loch hineinfräsen, und dann hätte es sich mit dem Thema Schild gegen Wind. Ich kenne, glaube ich, jedes elektrisch verstellbare Windschild, das in Serie angeboten wird. Ohne Ausnahme probiere ich alle Positionen aus. Ohne Ausnahme funktioniert ganz unten am besten und ohne Ausnahme wäre es noch besser, könnte ich am Tester noch eine gute Handspanne mit dem Dremel abnehmen.

Komfort im Winter

Der Wunsch nach hohen Windschildern kommt wahrscheinlich schlicht daher, dass Tourenmotorräder mit moderatem Reisetempo bewegt werden. Wir wollen uns auf der Autobahn nicht hinter einen flachen Windschild ducken, der selbst ohne Hinterlüftung hervorragend funktioniert. Wir fahren auf der Autobahn 130, 140 km/h. Mehr kostet Nacken, mehr kostet Benzin (1,87 Euro habe ich eben in Italien für den Liter Super bezahlt!). Im Siffregen: herrlich geschützt! Aber irgendwie greift kein Argument pro Windschild. Ein Zug am Nacken ist auf Dauer genauso eine kritisch statische Belastung wie ein Druck auf den Nacken. Sonst sähe man mehr Tourer jenseits der 140 km/h.

Am ehesten greift das Argument Wetterschutz. Ein hoher Windschild hält jedoch auch dann Luft ab, wenn die sehr günstig wäre, um den Fahrerkopf zu kühlen. Nun kann man natürlich mit dem Schlechtwetterbetrieb argumentieren, doch wenn wir uns umschauen: Fast niemand fährt bei schlechtem Wetter. Im Winter sieht man hauptsächlich Naked Bikes und BMW GS.

Der GS-Fahrer verlässt sich hier jedoch nicht auf den Windschild, sondern hat sich beim BMW-Freundlichen mit dem puscheligen Winterangebot an Bekleidung ausgestattet. BMW Pro Winter und eine gefütterte Streetguard funktionieren jedoch genauso auf einer Duke. Ich bestreite jedoch gar nicht den Vorteil des Wetterschutzes, sondern ich bestreite seine Relevanz. Gerade Tourenfahrer rücken am liebsten bei bestem Alpenwetter aus und im Winter kannst du im Gebirge sowieso kaum Motorrad fahren. Bei 30° C im Tal, das verspreche ich, fährt es sich auf der nackten Honda Hornet angenehmer als hinter der Cabrioscheibe einer Goldwing.

Pizza im Gesicht

Diese Argumentationskette erarbeite ich im Geist, als ich auf der KTM 690 Duke in einer Gruppe Windschilder unterwegs bin. Doch ein altes Windschild kommt mir zuvor, als wir zum Mittagessen anhalten: „Du siehst aus wie eine Pizza Insecta.“ Verdammt. Mit einem Satz argumentativ totgeschlagen. Deshalb endet dieser Text wie so viele in dieser Kolumne auf dem Mittelweg: Das beste Windschild ist ein möglichst flaches. Selbst der erfahrene Cabrio-Fahrer weiß, was ich meine. Ein bisschen Wind brauchst du. (cgl)