Kommentar: Vorsicht, mit Netflix und Lieferando geht‘s zurück ins Biedermeier

Mit dem Internet kommt die Welt nach Hause, aber der Mensch immer seltener heraus. Warum das keine gute Idee mehr ist, schreibt Robert Thielicke von der TR.

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Kommentar: Vorsicht, mit Netflix und Lieferando geht‘s zurück ins Biedermeier

Der "arme Poet" von Carl Spitzweg hätte das Internet womöglich zu schätzen gewusst.

(Bild: Carl Spitzweg)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Robert Thielicke
Inhaltsverzeichnis

Waren Sie schon einmal bei GringoBurritos, um gefüllte Tortillas zu essen? Ich nicht. Es wäre auch schwer, denn das Restaurant existiert nicht, zumindest nicht so, wie man es sich vorstellt: Es hat keinen Gastraum, keine Stühle und keine Bedienung. Es besteht nur aus einer riesigen Küche, denn es ist ein Geisterrestaurant, das nur für Lieferdienste wie Deliveroo oder Lieferando kocht.

Betreiber ist die Firma Keatz aus Berlin, und sie nennt noch weitere dieser virtuellen Restaurantmarken ihr Eigen, darunter MoodyMonkey für Thai Currys und OnoOno Poké für die hawaiianische Küche. Sechs Millionen Euro steckten Investoren 2018 in die virtuelle Gaststätte. Sie will laut Mitgründer Paul Gebhardt das "Netflix der Foodbrands" sein.

Ein Kommentar von Robert Thielicke

Robert Thielicke ist TR-Chefredakteur, streamt Musik, geht häufiger zu iTunes als ins Kino – aber lieber richtig ins Restaurant als nur per Internet.


Das mag eine schiefe Analogie sein, weil sich Mahlzeiten nicht direkt auf den Teller streamen lassen, die dafür nötigen Essensdrucker jedenfalls sind noch lange nicht so weit. Dennoch eint GringoBurritos und Netflix mehr, als es auf den ersten Blick scheint: Sie bringen Dienstleistungen nach Hause, für die Menschen früher nach draußen mussten. Damit verändern sie das gesellschaftliche Leben. Für viele Menschen lautet die Frage in ihrer Freizeit nicht mehr: wohin ausgehen? Sondern: womit zu Hause bleiben? Warum das Haus verlassen, wenn alles auf Knopfdruck hereinkommt?

TR 7/2019

Technology Review Juli 2019

(Bild: 

)

Mit dem Online-Handel hat die Entwicklung begonnen, die Streamingdienste haben sie weitergeführt. Netflix hat mittlerweile 155 Millionen Kunden weltweit, Amazon Prime über 100 Millionen. Heutzutage beanspruchen Videos 58 Prozent des weltweiten Datenvolumens. Und auch die Fernseher wachsen von Jahr zu Jahr: von 102 Zentimetern Diagonale 2015 auf heute 108 Zentimeter – und auf prognostizierte 123 Zentimeter 2021, so die Marktforscher von GfK.

Nicht einmal zum Arbeiten verlassen Menschen heute noch zwingend ihr Zuhause. Seit Jahren steigt die Zahl der Angestellten im Homeoffice. Nach einer Umfrage von Bitkom Research liegt ihr Anteil inzwischen bei 39 Prozent, 17 Prozentpunkte mehr als 2014.

Wenn man es sich nun also drinnen gemütlich machen kann, ohne auf die Annehmlichkeiten der Außenwelt verzichten zu müssen – dann stehen wir am Anfang eines neuen Biedermeiers. Nur wird der Rückzug ins Private diesmal nicht ausgelöst durch die Karlsbader Beschlüsse, mit denen die Mächtigen 1819 ihren Bürgern die politischen Freiheiten nahmen. Sondern durch eine Technik, mit der jeder in der Welt unterwegs sein kann, ohne sich wirklich zu bewegen. Aber der Effekt ist nahezu der gleiche: Das Leben zieht sich zurück in die eigenen vier Wände. Das Internet, dieses eigentlich wunderbare Instrument der Vernetzung, hat die Welt zwar größer gemacht – den Willen, sich mit ihr auseinanderzusetzen, aber offenbar kleiner.

Ist es in diesem Zusammenhang wirklich nur Zufall, dass der Umsatz mit Einrichtungsgegenständen, also Hausgeräten, Möbeln oder Teppichen, seit Jahren stetig wächst, von 69 Milliarden Euro im Jahr 2010 auf 81 Milliarden Euro im Jahr 2017?

Inzwischen wandert sogar die Fitnessbranche ins Internet, weil sehr viele Menschen lieber zu einem Video in den eigenen vier Wänden Sport machen als im Studio. Peloton hat daraus ein gigantisches Geschäft gemacht. Mit einer Milliarde Dollar Risikokapital im Rücken überträgt das US-Start-up Kurse für Yoga, Cycling oder Laufen an Millionen Mitglieder weltweit. Fitnessstudios unterhält es nur noch, um die Kurse aufzunehmen. Wer online teilnimmt, kann mit anderen Teilnehmern chatten, sogar Gruppen wie bei WhatsApp lassen sich gründen. Das Tablet dazu ist bereits fest auf dem Hometrainer montiert.

Der nächste Schritt wären virtuelle Radrennen mit VR-Brillen, sobald diese kleiner, leichter und bequemer sind. Wo es hingehen könnte, malt ein Werbeclip der Facebook-Tochter Oculus aus: Während draußen auf der Terrasse die Gäste tanzen, sitzt der Gastgeber drinnen auf dem Sofa und hat in der virtuellen Realität augenscheinlich deutlich mehr Spaß.

Das Szenario mag ein Traum von Nerds sein, aber in den vergangenen Jahren sind so viele Träume von Nerds Wirklichkeit geworden, dass man sie nicht beiseitewischen sollte. Schließlich hat die virtuelle Kontaktaufnahme ein paar unleugbare Vorteile: Man kann die Welt gleichzeitig aussperren und reinlassen. Teilnahme ist möglich, ohne den Schweiß der anderen riechen, dumme Sprüche anhören, gezwungen Smalltalk führen zu müssen. Selbst im letzten Winkel des Landes kommt jeder an gute Filme und Sportkurse.

Aber dies hat eben auch den großen Nachteil, dass der Kontakt mit Menschen verloren geht, die anders denken, anders leben, andere Interessen und Bedürfnisse haben. Die Filterblase aus den sozialen Medien dehnt sich in die physische Welt aus. Oder, um im Bild des Biedermeiers zu bleiben: Die eigenen vier Wände wachsen über die Wohnung hinaus.

Natürlich gab es viele dieser Angebote auch früher schon. Bereits in den 70er-Jahren flimmerte die Tele-Skigymnastik mit Olympiasiegerin Rosi Mittermaier über Deutschlands Bildschirme. Mindestens ebenso lang existieren Lieferdienste für Pizza.

Wenn nun jedoch mehrere Millionen oder – wie bei Peloton, Netflix und Oculus – sogar Milliarden in derartige Angebote fließen, dann bekommt die Entwicklung eine ganz neue gesellschaftliche Dimension. Kein Geisterrestaurant, Streamingangebot oder virtueller Fitnesskurs ist für sich genommen das Problem. Die Gefahr entsteht erst mit der Summe der Angebote und ihrem stetigen Ausbau.

Im Biedermeier zensierten die Mächtigen Bücher, Zeitungen und andere Veröffentlichungen, verstärkten die Kontrolle der Universitäten. Sie wollten den Liberalismus zurückdrängen, was ihnen tatsächlich gelang. Genau diese Entwicklung droht heute wieder, nur diesmal nicht auf Druck von oben, sondern aus einem Rückzug von unten. Aus dem Leitsatz „Leben und leben lassen“ wird zunehmend „Lebt euer Leben, ich lebe meins“. Zur Disposition steht die Grundüberzeugung des Liberalismus, dass eine Gesellschaft von der Vielfalt der Meinungen und der Auseinandersetzung mit dieser Vielfalt lebt. Vielleicht ist es an der Zeit, sich bewusst zu machen, dass eine Gesellschaft nicht funktioniert, wenn sie ihre Fähigkeit zum Kompromiss verliert und sich das Denken nur noch in den eigenen vier Wänden abspielt – ob nun räumlich oder geistig.

Dieser Kommentar stammt aus der aktuellen Ausgabe von Technology Review (jetzt im Handel erhältlich und im heise shop bestellbar).

(jle)