Alzheimer-Forschung: Der Keim des Vergessens

War die Alzheimer-Forschung Jahrzehnte auf dem Holzweg? Eine bislang wenig beachtete These zu den Ursachen macht Hoffnung auf die ersten wirksamen Medikamente.

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Schnuppernder Sensor mit lebenden Zellen

(Bild: Shutterstock)

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Im Mittelpunkt der bisherigen Alzheimer-Forschung stehen β-Amyloide. Das sind Proteine, die entstehen, wenn ein bestimmtes Protein der Zellmembran zerschnitten wird. Der Stoff ist verdächtig, weil er sich in den "Plaques“ befindet – Klumpen aus Amyloid und allerlei Zelltrümmern, die sich zwischen den sterbenden Nervenzellen von Alzheimer-Patienten anhäufen. Bisher wurden viele hundert Milliarden Euro für die Entwicklung von Impfstoffen gegen diese Ablagerungen ausgegeben. Allerdings scheiterten alle bisherigen Studien.

Inzwischen halten einige Forscher dies für einen Irrweg – sie vermuten die Ursache der Alzheimer-Erkrankung in einer Infektion. "Als Spätfolge der Infektion könnte eine Kaskade von Entzündungsreaktionen in Gang kommen, wie wir sie bei Alzheimer um die Nervenzellen beobachten", sagt Robert Moir, Neurologe an der Harvard Medical School in Boston. Er brachte in seinem Labor schon 2010 direkt Infektionen und Alzheimer-Plaques miteinander in Verbindung.

TR 2/2020

Nicht nur Forschungsgruppen, auch erste Firmen nehmen chronische Infektionen ins Visier. Das Startup Cortexyme aus South San Francisco setzt auf den weitverbreiteten Parodontitis-Erreger Porphyromonas gingivalis als Hauptschuldigen. Porphyromonas gingivalis gilt als wichtigster Auslöser von Parodontitis, seine Abfallprodukte lassen das Immunsystem des Zahnhalteapparates angreifen. Er fühlt sich allerdings nicht nur in der Mundhöhle wohl und findet sich auch in Gehirnproben verstorbener und in der Rückenmarksflüssigkeit lebender Alzheimer-Patienten.

Einen starken Hinweis auf den Parodontitis-Keim als Auslöser von Alzheimer liefert das Unternehmen durch Versuche mit Mäusen, denen sie den Erreger oral verabreichten. In den Mäusegehirnen fanden die Forscher später nicht nur den Erreger, sondern auch hohe β-Amyloid Mengen in jenen Nervenzellen, in denen sich die Bakterien eingenistet hatten. Wie er aus den Zahnfleischtaschen der Mundhöhle ins Gehirn gelangt, ist noch nicht geklärt. Möglicherweise reist er im Inneren von Fresszellen, die freien Zugang zum Gehirn haben.

Nicht jeder, der den Keim im Mund hat, bekommt automatisch Alzheimer, und nicht jeder Erkrankte hat Parodontitis, betont Cortexyme-Geschäftsführerin Casey Lynch. Auch andere Risikofaktoren wie die genetisch bedingte Anfälligkeit für Alzheimer spielen eine Rolle. Durch die Gen-Variante ApoE4 bildet das Gehirn ein leicht anderes Protein in den Nervenzellen als bei ApoE2 oder -3, was das Krankheitsrisiko deutlich erhöht.

Um Porphyromonas gingivalis zu stoppen, lassen sich jedoch nicht einfach klassische Antibiotika entwickeln. Bisherige Breitband-Varianten scheinen ihm wenig anhaben zu können und haben viele Nebenwirkungen. Also entwickelte Cortexyme eine Substanz, die auf Umwegen gegen die Erreger im Gehirn wirkt. Für 2020 plant Cortexyme die nächste klinische Studie. Sie soll mindestens 573 Alzheimer-Patienten aus den USA, Frankreich, Spanien, Polen, Großbritannien und den Niederlanden einschließen.

Mehr über den "Keim des Vergessens" erfahren Sie in der neuen Februar-Ausgabe von Technology Review (im gut sortierten Zeitschriftenhandel erhältlich).

(jsc)