Biotech: Baukasten für Ein-Mensch-Arzneien

Forscher entwickeln einen Gen-Baukasten, mit dem sich Erbgut-Therapien auf einzelne Patienten maßschneidern lassen.

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Das Mädchen Ipek Kuzu bekam ein maßgeschneidertes Medikament

(Bild: Emily Haasch)

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Timothy Yu ist Arzt in Boston und Spezialist für Gensequenzierung. Er baut für einzelne Patienten maßgeschneiderte Gen-Medikamente, berichtet Technology Review in seiner neuen April-Ausgabe (jetzt im Handel). Die Rede ist nicht von Veränderungen der Gene in den Zellen seiner Patienten – er entwickelt Arzneien, die die Produkte defekter Gene abfangen: "Antisense"-Medikamente.

TR 4/2020

Das Prinzip dahinter ist eigentlich einfach: Im Inneren einer Zelle liegt der Code für die Herstellung von Proteinen – die DNA. Boten-RNA transportiert die Geninformation aus dem Zellkern heraus und ist das Muster, das dann in der Zelle abgelesen und in ein Eiweiß übersetzt wird. Ist das Gen jedoch defekt, will man diesen Schritt verhindern. Genau das sollen die Antisense-Medikamente leisten. Sie sind spiegelbildliche Moleküle dieser Boten-RNA, heften sich an den Boten und verhindern, dass seine Botschaft abgelesen werden kann. Ein defektes Gen lässt sich lahmlegen, ohne den Erbgut-Abschnitt selbst ausschneiden zu müssen.

2016 machte der Hersteller Ionis mit der Zulassung des ersten Antisense-Medikaments "Nusinersen" Furore. Es hilft Kindern mit spinaler Muskelatrophie, einer genetischen Krankheit, mit der die Kinder höchstens zwei Jahre alt werden. Die Leiden von Yus Patienten sind hingegen so selten, dass kein Pharmaunternehmen eine Therapie dafür entwickeln würde.

Also entwickelt der Mediziner die Medikamente für jeden einzelnen seiner Patienten auf der Basis von Nusinersen. Er baute das neue Medikament modular auf dem chemischen Rückgrat von Nusinersen auf. Während Ionis noch Jahrzehnte gebraucht hatte, um sein Medikament zu perfektionieren, brauchte Yu nur acht Monate, um das erste neue Medikament herzustellen und zuzulassen.

Yu geht mit Antisense-Medikamenten um wie mit digitalen Daten. Das Grundprogramm lässt er unverändert und programmiert nur die Teile um, die den Code für den individuellen Gendefekt enthalten. Mit diesem System lassen sich theoretisch viele unterschiedliche genetische Krankheiten behandeln. "Der Unterschied zwischen dieser Art der Medikamentenentwicklung und der traditionellen besteht darin, dass jemand jetzt ein Medikament entwickeln kann, ohne dass er vorher mit dieser Technologie vertraut war", sagt Art Krieg, wissenschaftlicher Leiter bei Checkmate Pharmaceuticals in Cambridge, Massachusetts.

Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen am Uniklinikum Marburg, sieht großes Potential in dieser Art, Medikamente zu entwickeln: "Da entwickelt sich ein komplett neuer Werkzeug-Kasten, der für ganz unterschiedliche Leiden zur Verfügung steht, ohne jedes Mal neu anfangen zu müssen."

Allerdings sei Vorsicht angesagt, mahnt Schäfer. "Man sollte die Anwendung daher erst einmal auf Krankheiten beschränken, bei denen wir keinen fein justierten Effekt erzielen müssen.“ Geeignet wären in seinen Augen beispielsweise Stoffwechselprozesse, bei denen der Körper einen gewissen Spielraum besitzt.

"Natürlich müssen wir bei solch revolutionären Technologien darauf achten, dass wir keine 'Büchse der Pandora' öffnen, und es bedarf einer engen wissenschaftlichen Begleitung und weiterer Forschung von Nutzen und Risiken", sagt Schäfer. "Für Menschen, die an einer tödlichen Erkrankung leiden und mit dem Rücken zur Wand stehen, sind solche Entwicklungen jedoch mehr als nur ein Hoffnungsschimmer."

Mehr über den "Baukasten für Ein-Mensch-Arzneien" erfahren Sie in der neuen April-Ausgabe von Technology Review (im gut sortierten Zeitschriftenhandel erhältlich).

(jsc)