Jogginghose oder Anzug: Was das Homeoffice mit uns anstellt

Was macht die derzeitige Krise mit uns? Was passiert, wenn wir dauerhaft im Homeoffice arbeiten? Dazu haben wir mit einem Psychologen gesprochen.

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Interview mit einem Psychologen: Jogginghose oder Anzug

(Bild: Pheelings media / Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.

Stefan Junker, Psychologe und Psychotherapeut aus Heidelberg, spricht mit heise online über Krisen und die Arbeit im Homeoffice.

Was ist denn überhaupt eine Krise?

Eine Krise kann man besonders gut erklären, in dem man sie von einem Problem unterscheidet. Bei einem Problem funktioniert das, was vorher oder bei anderen Leuten schonmal funktioniert hat. Ich kann mich nach Rezepten umschauen. Bei Krisen ist das nicht der Fall - Krise bedeutet, dass genau das, was ich in der Vergangenheit gemacht habe, nicht funktioniert.

In einer Krise weiß keiner genau, was richtig und zu tun ist. Man muss stetig neu lernen. Dabei findet man sogar eher erstmal heraus, was nicht funktioniert.

Haben Sie da ein Beispiel?

Wir wissen etwa, sich zu umarmen ist falsch, nicht die Hände zu waschen ist falsch, zu viel Kontakt haben ist falsch. Wir wissen deshalb aber noch lange nicht, wie wir aus der ganzen Nummer wieder rauskommen, was also richtig wäre.

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Gibt es einen Unterschied zwischen einer Krise, die eine Einzelperson hat und einer, die die ganze Welt trifft?

Von der formalen Logik her gibt es keinen Unterschied. Es ist aber natürlich schon ein Unterschied, dass wir alle schwimmen und niemand mehr auf dem Festland steht, also niemand die Lösung hat. Und das ist wohl auch die erste Krise dieser Art. Wir sitzen erstmals alle in einem Boot.

Ist das für den Einzelnen eher beruhigend oder sogar beunruhigend?

Die Medaille hat zwei Seiten. Die Krise hat den Vor- und Nachteil, dass wir sie gemeinsam durchleben. Es ist eine große Chance, einen Gemeinsinn zu entwickeln, sich gegenseitig zu stützen und als globalisierte Gemeinschaft zu verstehen. Gleichzeitig kann ich als Einzelperson keinen Impuls rausschicken „Rettet mich doch bitte“.

Viele haben sicherlich Angst und Sorgen.

Erstmal finde ich es wichtig, denen zu sagen, dass das okay ist. Wenn man beunruhigt ist, ist es völlig angemessen mit einer gewissen Angst zu reagieren. Sie sollte natürlich nicht so weit gehen, dass sie einen lähmt. Das wäre eine überzogene Reaktion. Beunruhigung ist ein Gefühl, das Mutter Natur uns mitgegeben hat, damit wir uns anpassen und gut auf die veränderten Umstände reagieren können.

Was können da Symptome sein?

Orientierungslosigkeit ist sicherlich ein Symptom, aber man sollte sich aktuell nicht reinsteigern. Es ist normal, dass man auch mal nachts eine Stunde wach liegt und nachdenkt, ein Dauerzustand sollte daraus nur nicht werden. Wir sollten uns bewusst machen, dass vieles noch immer funktioniert, auch in dieser Ausnahmesituation: Der Kühlschrank ist voll, Familie, Freunde, Beziehungen bleiben bestehen, die Sonne geht noch immer auf. Das, was wirklich Sicherheit im Leben ausmacht, ist da.

Können die Sorgen Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft haben, wie es etwa sicherlich auch Kriege hatten?

Ich bin da optimistisch, weil wir eine ganz andere Kultur als vor 70 Jahren haben. Zum Beispiel wird heute über psychische Probleme geredet. Es gibt einen öffentlichen Diskurs über psychische Belastungen.

Wir sollten aber mit der ganzen Situation fehlertolerant und nachsichtig umgehen. Wenn Schuld-Fragen gestellt werden, wird es unversöhnlich. Krise heißt eben auch, dass Fehler passieren und wir erst nach und nach dazulernen und schlauer werden.


Was kann jemand machen, der aus den Gedanken und Sorgen nicht mehr rauskommt?

Es hilft, um sich gedanklich zu sortieren, wenn man eine Dreiteilung macht. Die schaut wie folgt aus: Als erstes überlege ich mir, was die Tatsachen sind, mit denen ich es zu tun habe. Tatsachen kann ich nicht verändern, das muss man hinnehmen. Als nächstes kommt die Frage, was dabei meine Probleme sind. Probleme haben Lösungen - sonst wären es Tatsachen. Was kann ich aus meiner Kraft heraus lösen. Das letzte ist die Frage nach der Krise: Also eben genau, welche meiner üblichen Strategien jetzt nicht mehr funktionieren. Da lohnt es sich, verrückt und neu zu denken. Kann mir mein Nachbar, den ich bisher nicht kannte oder nicht mochte, jetzt Lebensmittel mitbringen? Was kann ich anders machen als zuvor.

Anders ist für viele auch, dass sie mehr daheimsitzen. Können Videoanrufe wirklich Ersatz für direkte soziale Kontakte sein?

Wir Menschen sind Gewohnheitstiere, wir müssen uns jetzt umgewöhnen und können das auch sehr gut. Wir wissen von anderen Situationen, dass wir uns umstellen können, etwa von Menschen, die eine Weile abgeschieden in Forschungsstationen arbeiten, Menschen, die in Gefangenschaft waren. Beziehungen sind nicht weg, sie sind eben nur anders. Früher ging das sogar ohne Telefon und Internet und nur per Brief.

Was macht das Homeoffice mit einem? Was sollte man bedenken?

Ein Problem ist, dass keine Struktur mehr vorgegeben ist: Wann ist man was und in welcher Rolle. Bin ich Arbeitnehmer, Vater, Mutter, Partner, Skatspieler mit Freunden. Ich würde dazu raten, sich klare Zeiten zu schaffen, wann was ansteht. Dazu können bestimmte Orte helfen - nicht den Laptop im Bett für die Arbeit rausholen. Wenn alles gleichzeitig abläuft, kann das stressen und im Kopf auch matschig machen.

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Im Homeoffice kann es auch schwierig sein, dass mehrere Personen in einem Haushalt gleichzeitig arbeiten. Nähe und Distanz müssen neu ausgehandelt werden. Wer ist in welchem Raum, wann hat man Ruhe voneinander. Im Zweifel sollte man darüber sprechen und schauen, was gut gelaufen ist, was nicht.

Typische Rituale fehlen erstmal. Der Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad, das Brötchen, das ich mir jeden Tag zwischendurch in der Kantine hole. Das fällt weg und hilft normalerweise dabei, den Kopf zu strukturieren. Es gilt jetzt, neue Rituale zu entwickeln.

Jogginganzug oder Anzug?

Klar, es kann so weit kommen, dass man ein bisschen verloddert. Dem sollte man entgegenwirken. Tag und Nacht sollten nicht verschwimmen. Besser ist es, zu gewohnten Zeiten aufzustehen, Zähne putzen, Kaffee trinken und so weiter und dann zur Arbeit gehen, auch wenn es nur zum Laptop ist. Der Weg zur Arbeit ist ein Zeitpuffer, der hilft, von einer Rolle in eine andere zu wechseln. Den kann man mit einem kleinen Sportprogramm ersetzen, Puffer helfen.

Was kann uns noch helfen?

Wir können Veränderungen und Einschränkungen besonders gut hinnehmen, wenn wir einen Sinn darin sehen. Wenn ich weiß, es macht Sinn, ist es auch okay, wenn es mal doof ist. Es hilft nicht, sich Gedanken zu machen, ob alles richtig so ist. Es ist die Zeit des Vertrauens und der Experten. Dabei ist nicht mal entscheidend, zu denken, dass alles sofort richtig gemacht wird, sondern dass Entscheidungsträger nach bestem Wissen und Gewissen handeln und dabei lernfähig sind.

Wie kann ich anderen Menschen helfen, die sich schwer damit tun, nun daheim zu sitzen?

Ein offenes Ohr zu haben, da zu sein, ist immer richtig. Gar nicht zu viele Tipps parat haben, hinnehmen, dass es jemandem nicht gut geht und das akzeptieren. Sich selbst sollte man natürlich auch akzeptieren, wenn es einem mal auf die Laune schlägt. Es ist völlig normal, dass wir derzeit ganz viele Emotionen gleichzeitig und hintereinander haben. Sorge und Betroffenheit, wenn wir Bilder von Konvois sehen, die Leichen transportieren, Euphorie, weil wir die Zeit nutzen, um etwas Neues anzufangen, was wir schon lange vorgehabt haben, Stress, weil die Arbeit anders abläuft als gewohnt.

Ein Tipp für die Leser?

Ein bisschen Bewegung - das ist gut für das Immunsystem und um dem Virus damit ein Schnippchen zu schlagen, Bewegung ist aber auch nachweislich gut fürs Gemüt.

Stefan Junker hat Teile seines Buchs "Krise – Hirn an" kostenlos zum Donwload Download online gestellt. (emw)