Corona: Die zweite Jahrhundertseuche

COVID-19 ist die erste Pandemie, die der Spanischen Grippe von vor 100 Jahren nahekommt. Es gibt trotzdem große Unterschiede, sagt Fachautorin Laura Spinney.

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Das zweite Jahrhundertereignis

Masken gab es auch schon 1918 – hier in den USA.

(Bild: PD)

Lesezeit: 8 Min.
Inhaltsverzeichnis

Schlimmer, so meint es der Volksmund ja gerne, geht es immer. Obwohl fast die gesamte zivilisierte Erde in selbstauferlegter Heimisolation sitzt – mit Ausnahme all jener guter Menschen, die im Gesundheitswesen, im Handwerk, im Lebensmittelhandel oder bei den Lieferdiensten dafür sorgen, dass unsere Welt nicht zusammenbricht –, haben wir es doch noch recht komfortabel. Es gibt ständigen Zugriff auf das Internet, die Nahrungsversorgung, Strom und Wasser arbeiten flächendeckend ganz normal und von COVID-19 scheinen direkt, zumindest in Deutschland, vor allem Risikogruppen und alte Menschen betroffen zu sein, so dass die Möglichkeit besteht, alle Schwerbetroffenen angemessen zu versorgen.

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In Berlin fragt man sich gar – mit zum Stand der Verfassung dieses Artikels nur 51 Todesfällen auf 3,6 Millionen Einwohner –, ob hier ein großes Experiment läuft, wenn über und vor Ostern die Parks, Bau- und Wochenmärkte voller wirken als je zuvor.

Laura Spinney

(Bild: (c) Dominique Cabrelli)

In der jüngeren Geschichte, so scheint es, ist die Corona-Krise bislang ohne Beispiel. Doch das stimmt so nicht. Vor erstaunlicherweise genau 100 Jahren – zwischen 1918 und 1920 – verheerte die sogenannte Spanische Grippe den Planeten.

Sie brachte – so genau weiß man das leider nicht – zwischen 50 und 100 Millionen Tote weltweit, was, zumindest beim höheren Wert, mehr vernichtetes Leben bedeutet hätte als im 1. und 2. Weltkrieg zusammen. Dennoch ist dieses Ereignis im gesellschaftlichen Gedächtnis weitgehend verdrängt, obwohl es kaum eine Familie gab, die keine Verstorbenen zu beklagen hatte.

Laura Spinney, die britische Wissenschaftsjournalistin, hat 2017 das wohl definitive Buch zur Spanischen Grippe in der jüngeren Geschichte verfasst. Die Autorin durchforschte für "National Geographic", "Nature" und "The Economist" die Archive, trug Augenzeugenberichte zusammen und liefert zahlreiche Fallstudien, wie die Menschheit mit dieser Krise umgegangen ist, egal ob in Europa, den USA, Indien, Afrika oder Australien. "Pale Rider", auf Deutsch "1918 – Die Welt im Fieber" (Carl Hanser) schoss zum Ausbruch von COVID-19 zurück in die Bestsellerlisten von Amazon. Doch wie genau unterscheidet sich die Spanische Grippe von dem, was wir heute erleben?

Spinney selbst hat, so furchtbar das ist, einen Logenplatz ergattert – sie lebt in Paris, macht die dort im Vergleich zu Deutschland signifikant härteren Isolationsmaßnahmen mit und kann live im Fernsehen beobachten, wie überlastet die Krankenhäuser in Frankreich sind. "Ich muss sagen, es ist früher passiert, als ich gedacht hätte", meint sie zum Ausbruch der nächsten großen Pandemie im Audiogespräch mit Technology Review, "und es ist dramatischer, als ich gedacht hätte".

Als sie ihr Buch geschrieben hat, sprach sie mit vielen Experten, die seit langem Pandemien untersuchen. "Und die haben mindestens eine weitere Pandemie in einem Jahrhundert vorausgesagt. Im statistischen Sinne ist es also nicht überraschend."

Sie dürfe jetzt eine Stunde am Tag raus und könne sich in einem Umkreis von einem Kilometer von zuhause bewegen. "Es ist sehr ruhig, es ist sehr still, es ist ziemlich gespenstisch. Man kann die U-Bahnzüge unter sich kreisen hören, obwohl viele Bahnhöfe geschlossen sind." Die Luft scheine sauberer zu sein, man könne den Frühling in ihr riechen. Man habe das Gefühl, eine historische Zeit zu durchleben. "Eine Zeit, die ich noch nie zuvor erlebt habe und in gewisser Weise hoffentlich auch nie wieder erleben werde. Dieser Moment hat definitiv etwas ziemlich Bedeutsames an sich."

Spinneys Buch erschien in der Originalausgabe bereits 2017.

(Bild: Carl Hanser Verlag)

Die Spanische Grippe kam von 1918 bis 1920 in mindestens drei Wellen über die Menschheit. Mit Spanien hatte sie nur insofern zu tun, als dass dies das erste Land war, in dem Medien aufgrund seiner Neutralität im 1. Weltkrieg von ihr berichteten, während die meisten anderen Länder Informationen zensierten. Vermutlich entstand die Krankheit in einem Militärlager in Kansas, in dem auch viele Schweine gehalten wurden, als Übertragung vom Tier (Zoonose) – und verbreitete sich dann mit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten per Schiff. Andere Forscher glauben wiederum, dass die Spanische Grippe ihren Ausgangspunkt wie COVID-19 in China genommen haben könnte – ebenfalls als Zoonose – und sich mit Arbeitern aus dem Land verbreitete, die in Europa, etwa in Frankreich, an die Front geschickte Werktätige ersetzen sollten. Eine genaue Rückverfolgbarkeit scheint jedoch unmöglich.

Spinney nennt mehrere zentrale Unterschiede zwischen COVID-19 und der Spanischen Grippe. So breite sich die neue Seuche viel mehr in Clustern aus, zumindest in diesem Stadium. "Die Grippe scheint sich gleichmäßiger und schneller in einer Bevölkerung auszubreiten, was bedeutet, dass es viel schwieriger ist, sie einzudämmen."

Zudem hatte die Spanische Grippe eine andere Wirkung. "Wie jede Grippe betraf sie sehr junge und sehr alte Menschen, aber die gefährdetste Altersgruppe waren die 20- bis 40-Jährigen. Mit anderen Worten: Erwachsene in der Blüte ihres Lebens, die produktivsten Menschen in der Gesellschaft, die Stützen der Gemeinschaft und die Eltern von Kindern", so Spinney. Alte und Junge blieben also oft allein zurück. Zudem begann die Krankheit sehr schnell und der Tod trat, vor allem ausgelöst durch Sekundärinfektionen des geschwächten Körpers, oft in einem Zeitraum von unter 10 Tagen ein.

"Es war in vielerlei Hinsicht schlimmer, glaube ich", sagt Spinney. "Ich meine, natürlich sind die Daten über diese Pandemie noch nicht alle bekannt, aber es sieht nicht so aus, als ob diese Pandemie eine globale Todesrate in der Nähe der Spanischen Grippe haben wird, obwohl unsere Weltbevölkerung ungefähr viermal so groß ist wie 1918." Sie denke, COVID-19 werde sich eher in der Größenordnung der Grippe-Pandemie von 1957 oder der von 1968 bewegen – die sogenannte "asiatische Grippe" und die "Hongkong-Grippe". Aber auch damals wurden mehr als vier Millionen Menschen getötet. "Was natürlich eine gigantische Zahl ist und im Vergleich zu den Verlusten, die wir bislang bei dieser Pandemie hatten, riesig klingt."

Spinney sieht die Lockdown-Maßnahmen als wichtigen Schritt zur Begrenzung von COVID-19. Diese seien beispiellos. "Nichts in diesem Ausmaß wurde 1918 getan, es wäre 1918 unmöglich gewesen." Allerdings wisse noch niemand, wem diese Maßnahmen am meisten schaden und ob es eine Art negative Synergie zwischen Eindämmung von COVID-19 und dem Lockdown gebe. "Ich würde es nur ungern sehen, wenn diese Pandemie und unsere Versuche, sie einzudämmen, die Ungleichheiten in der Gesellschaft noch stärker verschärfen würden, als sie es ohnehin schon sind." Aber das sei ein Risiko. An das Schließen der Grenzen glaubt Spinney übrigens nicht. "Das funktioniert nicht, es sei denn, man ist so etwas wie ein kleiner Inselstaat – und selbst dann kann man mit der Schließung der Grenzen mehr Schaden anrichten, weil man möglicherweise verhindert, dass lebenswichtige Ausrüstung und andere Dinge hereinkommen."

Noch wisse man über COVID-19 aber einfach zu wenig. "Wir wissen nicht, wie es sich verhalten wird, wir wissen nicht, ob es weitere Wellen geben wird. Wenn wir unsere Karten mit dieser Isolationspolitik nicht richtig spielen, könnten wir selbst eine weitere Welle provozieren." China, meint Spinney, hat unterdessen ein ganz anderes Problem. "Die große Mehrheit seiner Bevölkerung ist nicht geschützt und nicht immun gegen dieses Virus. Und wir haben keinen Impfstoff. Daher besteht jetzt das Problem, die Krankheit aus China selbst fernzuhalten."

(bsc)