NAHSEHN

Lange galt es als Spielerei. Nun bewahren Videokonferenzen und -Chats Wirtschaft und Sozialleben vor dem Zusammenbruch.

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Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Peter Glaser

Nachdem fast ein Jahrhundert lang immer wieder erfolglos verkündeten baldigen Durchbruch kam endlich die rettende Krise. Um die schwerwiegenden Folgen der Kontaktsperren infolge der Corona-Pandemie zu überbrücken, die Wirtschaft, Schulbetrieb, Kultur- und Privatleben vollständig zum Erliegen zu bringen drohten, schlug endlich die Stunde der Videokonferenz. Online-Unterricht wurde improvisiert. Büroangestellte, nunmehr ins Home Office vereinzelt, finden sich mit kostenloser Software wie Skype, Webex, Lifesize, Blizz oder dem datenschutzgeplagten Zoom wieder zu Teams verbunden. Selbst EU-Gipfeltreffen finden virtuell statt. Weithin keine Debatten über der Natur entfremdete Menschen, die lieber mit Maschinen umgehen. Das Feuilleton sitzt mit offenem Mund da und staunt.

Ein Stoßseufzer lautet, man könne die Entwicklung der digitalen Technologien ohnehin nicht aufhalten, auch wenn man wollte. Der lange Leidensweg der Bildtelefonie belegt, dass es sehr wohl funktionierende und nützliche Technologien gibt, die trotzdem keiner will. Am 1. Dezember 1927 war auf einer Leitung zwischen Berlin und Wien der erste öffentliche Bildübertragungsdienst im Bereich der Deutschen Reichspost aufgenommen worden.

Im Jahr darauf erschien in der "Berliner Illustrirten Zeitung" unter dem Titel "Wunder, die unsere Kinder vielleicht noch erleben werden" ein Bericht, der auch heute nichts von seiner Frische verloren hat: "Seit einigen Monaten hat es den Anschein, dass die Radio-Television, das heißt die Übertragung eines lebenden Bildes von einem Sender aus, im Laboratorium verwirklicht worden ist. In wenigen Jahren wird man bestimmt mit Hilfe eines Apparates, der drahtlos funktioniert und vielleicht Telephotophon heißen wird, seinen Partner zur gleichen Zeit sehen und sprechen hören. Und "Taschenmodelle" werden die Fortsetzung einer angefangenen Unterhaltung mit einen Freund auch auf einer Reise oder einem Spaziergang ermöglichen."

1936 wurde zwischen Berlin und Leipzig der erste "Fernsehsprechdienst" der Welt eröffnet (vorrangig zur Übermittlung von Polizeifotos). Aus Science Fiction und utopischer Literatur war das Bildtelefon seither nicht mehr wegzudenken, allerdings schien es sein Schicksal zu sein, futuristisch zu bleiben. In Krisenzeiten, in denen Manager ungern in Flugzeuge stiegen, weil sie in die Luft fliegen konnten, boomte das Bildtelefon-Business. Aber es hat ein ähnliches Problem wie CNN: ohne Krisen kein Geschäft. In den Neunzigern konnten amerikanische Kinder das Wunder der Telephotophonie erstmals per richterlicher Verfügung erleben. Einem Gesetz im Bundesstaat Utah zufolge können "virtuelle Besuche" Teil einer Scheidungsvereinbarung werden. Separierte Elternteile hoffen, per Bildtelefon wieder mehr am Alltag ihres Nachwuchses teilhaben zu können.

Am modernen Bildtelefon, ob Laptop oder Smartphone, sollte man sich an privaten Orten eigentlich erst einmal im Mirror-Modus seiner selbst ("Sitzt das Toupet?") sowie des Bildhintergrunds vergewissern (Lieblingshintergrund in Home Offices ist derzeit die Bücherwand). Da aber auch niemand eine Sprechprobe macht, ehe er telefoniert, fällt dieses Regulativ weg. Dabei ließen sich hier interessante soziale Potenziale ausschöpfen. Die blitzsaubere Wohnung wird aufgenommen und fortan als virtuelle Kulisse in den Hintergrund der Bildverbindung eingeblendet. Aufräumen muss man dann vielleicht nur noch ein einziges Mal im Leben.

(bsc)