Breton: Sturm aufs Kapitol ist der 11. September der sozialen Medien

EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton vergleicht den Angriff auf den US-Kongress in seinen Auswirkungen auf Social Media mit den Terroranschlägen in New York.

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Flagge der USA

(Bild: Marian Weyo/Shutterstock.com)

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Der Sturm auf das Kapitol in Washington stellt laut EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton einen Wendepunkt bei der Regulierung sozialer Netzwerke dar. "So wie der 11. September einen Paradigmenwechsel bei der weltweiten Sicherheitspolitik markiert hat, werden wir 20 Jahre später Zeuge eines Vorher-Nachher bei der Rolle von digitalen Plattformen in unserer Demokratie", schrieb der Franzose am Montag in einem Gastbeitrag für das Portal Politico. Die Betreiber könnten ihre gesellschaftliche Verantwortung nicht länger leugnen.

Der Angriff auf den US-Kongress hat dem Kommissar zufolge noch einmal vor Augen geführt, dass "was online passiert" auch Konsequenzen "im realen Leben" habe und diese sogar verschlimmere. Die "beispiellosen Reaktionen der Online-Plattformen auf die Ausschreitungen" mit der Sperre der Konten von US-Präsident Donald Trump auf Facebook und Twitter würfen die Frage auf: "Warum haben sie es nicht geschafft, die Fake News und Hassreden, die zu dem Anschlag am Mittwoch führten, von vornherein zu verhindern?"

"Unabhängig davon, ob es richtig war, einen amtierenden Präsidenten zum Schweigen zu bringen, sollte diese Entscheidung in den Händen eines Tech-Unternehmens liegen, das keine demokratische Legitimation oder Aufsicht hat?", fragt Breton. Könnten die Betreiber "immer noch argumentieren, dass sie keinen Einfluss darauf haben, was ihre Nutzer posten?"

Die vergangenen Tage hätten deutlicher denn je gemacht, "dass wir nicht tatenlos zusehen und uns auf den guten Willen dieser Plattformen oder deren geschickte Rechtsauslegung verlassen können", meint der 65-Jährige. "Wir müssen die Spielregeln festlegen und den digitalen Raum mit klaren Rechten, Pflichten und Sicherheitsvorkehrungen organisieren." Mit dem Entwurf für einen Digital Services Act (DSA) habe die Kommission hier einen "ersten Schritt getan". Die demokratischen Herausforderungen seien aber globaler Natur. Deshalb sollten die EU und die neue US-Regierung "als Verbündete der freien Welt" in einem konstruktiven Dialog kohärente globale Regulierungsprinzipien für Facebook & Co. vorantreiben.

Mit dem umstrittenen DSA will die Kommission "Ampeln" fürs Netz aufstellen. Plattformen müssen dem Plan nach nachweisen, dass sie keine "tatsächliche Kenntnis" über illegale Inhalte auf ihren Seiten haben oder "unverzüglich" gehandelt haben, um den Content zu entfernen oder den Zugang dazu zu blockieren. Sonst haften sie. Behörden jeglicher Art können Providern ohne Richtervorbehalt grenzüberschreitende Anordnungen schicken, um gegen bestimmte illegale Inhalte vorzugehen.

Im EU-Parlament, das der Entwurf noch passieren muss, werden nach den Vorfällen in Washington Stimmen laut, wonach der DSA verschärft werden sollte. "Wir müssen ehrgeiziger sein", erklärte der Fraktionschef der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, gegenüber "Politico". Wenn Algorithmen die Macht hätten, zu entscheiden, was wahrgenommen werde, müssten sie transparent sein und Standards dafür demokratisch festgelegt werden. Entsprechende Regeln habe die EU beim Urheberrecht und Datenschutz bereits gesetzt, betonte der CSU-Politiker: "Das Gleiche brauchen wir für diesen demokratischen Diskurs", Es könne nicht angehen, dass Facebook-Chef Mark Zuckerberg über damit verknüpfte elementare Dinge quasi allein entscheide.

Ähnlich äußerte sich Alex Agius Salib als Berichterstatter für den DSA im Binnenmarktausschuss des EU-Parlaments: Digitale Praktiken, die darauf abzielten, die Aufmerksamkeit der Nutzer durch illegale oder sensationsheischende Inhalte zu maximieren, müssten mit dem geplanten Gesetz eingeschränkt werden, forderte der Sozialdemokrat gegenüber "Euractiv". Die grüne Schattenberichterstatterin Alexandra Geese monierte, dass Google und Facebook mit dem DSA eigene Risikobewertungen erstellen könnten. Dies müssten unabhängige externe Instanzen übernehmen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bezeichnete die Sperrung vieler Konten Trumps in sozialen Netzwerken als problematisch. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit sei "von elementarer Bedeutung", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Eingegriffen werden sollte nur entlang "des Rahmens, den der Gesetzgeber definiert – nicht nach dem Beschluss der Unternehmensführung von Social-Media-Plattformen". Die Betreiber trügen große Verantwortung, dass die politische Kommunikation nicht vergiftet werde durch Hass, Lügen oder Gewaltaufrufe. Es sei richtig, solche Inhalte etwa mit Anmerkungen zu versehen.

Facebook hatte vorige Woche angekündigt, nun auch Versuche zum Anzweifeln der Ergebnisse der US-Präsidentschaftswahl mit Hinweisen zu versehen, wonach alle 50 Bundesstaaten die Resultate zertifiziert hätten. Man habe mittlerweile im Einklang mit hauseigenen Regeln über 600 "militarisierte soziale Bewegungen" wie die Oathkeepers oder die Proud Boys und zu Gewalt aufrufende Verschwörungsgruppen wie QAnon von der Plattform entfernt. Künftig werde der Konzern stärker auf Künstliche Intelligenz setzen, um Inhalte herabzustufen, "die unsere Regeln verletzen". Kommentare in Gruppen mit einem hohen Anteil an Hassrede würden automatisch deaktiviert.

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Es reiche nicht aus, Trump & Co. per "Deplatforming" öffentliche Bühnen zu entziehen, gibt Mitchell Baker, Chefin des Firefox-Herstellers Mozilla zu bedenken. Plattformen müssten etwa auch offenlegen, wer wie viel für Werbeanzeigen bezahle, welche Zielgruppen ins Visier genommen würden und wie eingesetzte Algorithmen funktionierten. Im Dezember hatte Mozilla bereits mit Twitter, dem Wordpress-Hersteller Automattic und dem Videoportal Vimeo gemahnt, dass die EU mit dem DSA das Versprechen des offenen Internets erneuern müsse. Es brauche eine breite Debatte über den Umgang mit rechtswidrigen und schädlichen Inhalten. Löschanordnungen allein brächten wenig, nötig sei ein technologieneutraler und Menschenrechts-basierter Ansatz.

Die Electronic Frontier Foundation (EFF) unterstützte die Entscheidungen von Social-Media-Anbietern, von ihren Rechten Gebrauch zu machen und Konten von Trumps zu blockieren. "Nichtsdestotrotz sind wir immer besorgt, wenn Plattformen die Rolle von Zensoren übernehmen", unterstrich die US-Bürgerrechtsorganisation. Sie müssten dabei zumindest die Grundrechte beachten. Den Aktivisten stößt zudem übel auf, dass dieselben Plattformen seit Jahren insbesondere Regierungsvertreter bei der Inanspruchnahme ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung bevorzugt hätten.

Hannah Schmid-Petri, Professorin für Wissenschaftskommunikation in Passau, empfiehlt, die erhitzte Debatte zu versachlichen. Soziale Medien seien nicht "Ursache politischen Übels", wohl aber "sehr leistungsfähige Plattformen für Kommunikation und Gruppenbildung, die Menschen für erfreuliche wie für gefährliche Zwecke nutzen". Was die Mitglieder dort äußerten, sollte genauso durch die Meinungsfreiheit geschützt werden wie Tischgespräche und öffentliche Reden. Es müssten aber auch "die gleichen rechtlichen Schranken der Meinungsfreiheit gelten".

(olb)