KI sucht Naturgesetze

Wissenschaftler arbeiten an Software, die aus Beobachtungen einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung herstellt. Erste Ergebnisse sind viel­versprechend.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 39 Kommentare lesen

Erdanziehung und Mensch.

(Bild: Ben O'Sullivan on Unsplash)

Lesezeit: 4 Min.

Am Massachusetts Instiute of Technology (MIT) entsteht ein komplett neues Institut für "Künstliche Intelligenz und Fundamentale Interaktion“, das mithilfe Künstlicher Intelligenz neue Physik zu entdecken. Max Tegmark, Kosmologe und KI-Forscher vom MIT, hat gemeinsam mit Kollegen dafür einen ersten Demonstrator gebaut, berichtet Technology Review in seiner aktuellen Ausgabe 2/2021 (am gut sortierter Kiosk oder online bestellbar).

Die Software "AI Feynman" – benannt nach dem Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman – kann tatsächlich aus physikalischen Daten auf die Formel schließen, die diese Daten korrekt beschreibt. Um die Fähigkeiten der Software zu testen, haben die Forscher das mit 100 Formeln aus Feynmans berühmten Einführungsvorlesungen zur Physik getestet. Dazu ließen sie zunächst aus der zu testenden Formel einen Datensatz berechnen, zu dem die Software dann die passende physikalische Formel finden soll.

TR 2/2021

Dieser Beitrag stammt aus Ausgabe 2/2021 der Technology Review. Das Heft ist ab dem 18.02.2021 im Handel sowie direkt im heise shop erhältlich. Highlights aus dem Heft:

Theoretisch könnte solch eine Software eine mögliche bekannte Formel nach der anderen ausprobieren. "Aber wenn die Funktion nicht besonders einfach ist, dann kann das länger dauern als das Universum alt ist", sagt Tegmark. AI Feynman wendet daher ein paar sehr clevere Methoden an, die auch ein Wissenschaftler anwenden würde, wenn er vor diesem Problem stünde: Sie überprüft zunächst, ob sich die Formel vielleicht aus einfacheren Bestandteilen zusammensetzen lässt. Ein zweiter sehr wichtiger Punkt ist die Überprüfung von Symmetrien.

Denn viele physikalische Gesetze sind so strukturiert, dass sie beispielsweise auch in einem spiegelsymmetrischen System funktionieren. Eine zweite, verbesserte Version der Software, die zur NeurIPS 2020 präsentiert wurde, prüft die Daten auch auf Rotationssymmetrie. Jede dieser Prüfungen schränkt den Suchraum weiter ein, sodass die Einzelteile der Formel dann relativ einfach zu bestimmen sind. "Das ist noch kein voll ausgebildeter Wissenschaftler", sagt Tegmark, "aber so etwas wie ein automatisierter Doktorand."

Software wie AI Feynman wäre allerdings auch nur ein Zwischenschritt, denn streng genommen beschreibt die so gewonnene mathematische Gleichung nur den mathematischen Zusammenhang zwischen mehreren Größen – aber keinen kausalen Zusammenhang. Eine Möglichkeit, an dieser Stelle weiterzukommen, wäre ein vom Mathematiker Judea Pearl entwickeltes Verfahren. Pearl hat eine mathematische Methode entwickelt, mit deren Hilfe man kausale Zusammenhänge beschreiben kann: als Diagramme, in denen zwei Größen, die sich beeinflussen, mit Pfeilen verbunden sind.

Die auf den ersten Blick unschuldig aussehenden "kausalen Diagramme" erlauben etwas, das Pearl für den entscheidenden Schlüssel der menschlichen Intelligenz hält: Gedankenexperimente durchzuspielen und fiktive Szenarien und "kontrafaktische Fragen" – was wäre passiert, wenn ich dieses und jenes nicht getan hätte – zu beantworten. Im kausalen Diagramm bedeutet das, nach und nach sämtliche Pfeile zu entfernen und die Konsequenzen auszurechnen. Damit kann man im Prinzip systematisch prüfen, ob das zugrunde liegende kausale Modell wirklich alle Wechselbeziehungen zwischen den Messdaten abdeckt, oder ob es versteckte Einflussgrößen gibt, die man noch nicht berücksichtigt hat. In der Praxis ist diese Idee allerdings wegen der sehr inkonsistenten Daten und riesigen Datenmengen nicht einfach umzusetzen.

Tegmark ist dennoch optimistisch. "Vielleicht helfen uns die Maschinen dabei, bescheidener zu werden", sagt er. "Indem sie uns helfen, zu finden, was wir möglicherweise übersehen haben". Angst von Software ersetzt zu werden, hat er jedenfalls nicht – im Gegenteil.

"Wir leben hier in einem goldenen Zeitalter, wo wir plötzlich all diese neuen Werkzeuge bekommen, die wir vorher nicht hatten, um Physik zu machen", sagt Tegmark. "Jetzt kommt die dritte Revolution, wo wir Hilfe von Computern bekommen können, um Dinge zu entdecken. Und die sagen: Hey, schau mal hier, glaubst Du, da ist etwas Interessantes, das Du übersehen hast?" Tegmark strahlt: "Ist das nicht wahnsinnig aufregend?" (wst)