Kommentar: Dürfen Wissenschaftler eine Meinung haben?

Die Frage, welches Gewicht Expertenmeinungen in Krisenzeiten haben sollten, spaltet die Gesellschaft mehr denn je. Dabei beruht sie auf einem Missverständnis.

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Demo von Wissenschaftlern in den USA.

(Bild: Vlad Tchompalov / Unsplash)

Lesezeit: 4 Min.
Inhaltsverzeichnis

Vor kurzem erschien in der Zeit eine Analyse mit der wunderbar prägnanten Überschrift „Nerv!“ und der nicht minder wunderbaren, programmatischen Zwischenüberschrift „Wissenschaftliche Befunde sind keine Meinungen“.

Darin schildert Johannes Schneider eine Szenerie, die wir mittlerweile nur all zu gut kennen: Wissenschaftler sitzen mit Politikern gemeinsam in einer Talkshow und werden gebeten, eine Prognose über die weitere Entwicklung in einer Krise – Klimawandel, Pandemie, was auch immer – abzugeben. Weil es sich in der Regel um krisenhafte Entwicklungen handelt, sind die Prognosen für gewöhnlich düster, und die Handlungen, die notwendig sind, um diese Konsequenzen zu vermeiden, sind drastisch – ein scharfer Lockdown etwa, oder eine deutliche Reduktion der CO2-Emissionen.

Weil politische Handlungen aber meistens so etwas wie einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess unterliegen, finden sich die beteiligten Experten dann plötzlich in einer für sie bisweilen sehr schrägen Diskussion wieder, in der Wissenschaft nur eine von vielen möglichen Deutungen der Realität darstellt.

„Am Ende steht die Öffentlichkeit vor einem Deutungsproblem“, schreibt Schneider. „Ein politischer Kompromiss – wie aktuell der zu Schul- und Kita-Öffnungen – geht zum Beispiel meilenweit an diversen epidemiologischen Empfehlungen vorbei, gibt zugleich mit dem Verweis auf Fallzahlen und Inzidenzen aber vor, vernünftig zu sein im Sinne von wissenschaftlichen Kategorien. Was nun?“

Ein Kommentar von Wolfgang Stieler

Nach dem Studium der Physik wechselte Wolfgang Stieler 1998 zum Journalismus. Bis 2005 arbeitete er bei der c't, um dann als Redakteur der Technology Review zu wirken. Dort betreut er ein breites Themenspektrum von Künstlicher Intelligenz und Robotik über Netzpolitik bis zu Fragen der künftigen Energieversorgung.

Je länger und erbitterter die Diskussion geführt wird, desto mehr spaltet sich die Öffentlichkeit in solchen Fällen in zwei Lager auf – Verschwörungsideologen lasse ich jetzt mal bewusst raus. Das erste Lager gibt sich pragmatisch und „realistisch“, betont „nicht nur einseitige Erkenntnisse“ vor allem „von Virologen“ zu berücksichtigen, sondern das Problem „ganzheitlicher“ anzugehen und vor allem „die Machbarkeit“ bestimmter Maßnahmen zu berücksichtigen - sprich „zu radikale“ Vorschläge „vernünftigerweise“ auszusortieren.

Das zweite Lager hält es bedingungslos mit den wissenschaftlichen Experten. Ihr Schlachtruf lautet „Follow the Science“, ihre Grundhaltung ist pessimistisch und ihr Lieblingsspruch ist: „Told you so“ - wir haben es euch doch gesagt, dass die Dinge sich schlimm entwickeln. Und das tun sie für gewöhnlich ja auch.

Beide Positionen sind gefährlich: Die „realpolitische“ Position tut bisweilen tatsächlich so, als sei wissenschaftliche Erkenntnis eine Frage des persönlichen Geschmacks und der individuellen Vorlieben. Diese Argumentation bewegt sich meiner Meinung nach immer mal wieder gefährlich nahe an den „alternativen Fakten“ eines Donald Trump. Die Verfechter einer unbedingt rationalen Politik, die sich einfach nur nach den Erkenntnissen „der Wissenschaft“ richten sollte, propagieren dagegen im Kern eine scheinbar alternativlose Technokratie, die vorherrschende gesellschaftliche Spielregeln und Machtverhältnisse komplett ausblendet.

Dabei unterliegen beide Lager einer Fehleinschätzung ihrer eigenen Fähigkeiten, einem psychologischen Bias, den Matthew Hutson in einem ausführlichen Artikel in der aktuellen Technology Review beschreibt: Sie glauben viel mehr über die Welt zu wissen, als sie tatsächlich wissen. In Wirklichkeit, schreibt Hutson, beruht unser Verständnis von der Welt zu großen Teilen auf Beweisen und Argumenten, die von anderen geliefert werden – und denen wir letztlich einfach glauben müssen. Ein Phänomen, das der Philosoph John Hardwig „epistemische Abhängigkeit“ genannt hat.

Das klingt zunächst nicht sonderlich schön, ermöglicht aber, dass wir gemeinsam viel weiter kommen, als wir das einzeln je könnten. Rein theoretisch beruht Wissenschaft zwar tatsächlich darauf, dass wir jedes einzelne Ergebnis, jeden Fakt überprüfen und nachvollziehen können. Würden wir aber nur das wirklich akzeptieren, was wir tatsächlich prüfen und nachvollziehen können, wäre das ein immenser wissenschaftlicher und technischer Rückschritt.

Umgekehrt ist ein wissenschaftliches Großprojekt wie zum Beispiel der Nachweis von Gravitationswellen nur möglich geworden, weil eine Menge schlauer Menschen darauf vertraut haben, dass ihnen andere schlaue Menschen keinen absoluten Unfug erzählt haben.

Warum erzähle ich das alles? Weil ich glaube, dass uns angesichts existenzieller Krisen wie dem Klimawandel oder eine Pandemie etwas intellektuelle Demut manchmal ganz gut tun würde - etwas mehr Vertrauen in die epistemische Abhängigkeit und etwas weniger Besserwisserei würde vielleicht schon bald intelligentere Lösungen hervorbringen, die wir im Moment einfach nicht sehen. (wst)