Bundesregierung: Überwachungsgesamtrechnung ist überflüssig

Eine Gesamtrechnung, die alle zur Verfügung stehenden Überwachungsmaßnahmen aufzeigt, sei weder nötig noch praktikabel, so das Innenministerium.

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(Bild: kirill_makarov/Shutterstock.com)

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Gesellschaftliche Gruppierungen und eine Reihe von Politikern fordern die sogenannte Überwachungsgesamtrechnung (ÜGR). Sie sollte die Summe aller den Behörden zur Verfügung stehenden Überwachungsmaßnahmen aufzeigen. Doch das Bundesinnenministerium (BMI) sieht dafür keine Notwendigkeit und hält eine ÜGR auch nicht für praktisch umsetzbar. Dies erklärt die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Anke Domscheit-Berg (Die Linke), die heise online vorliegt. Demnach trägt die Exekutive den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) an die Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen bereits "insgesamt Rechnung".

Die Karlsruher Richter hatten in ihrem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung 2010 den Gesetzgeber angehalten, beim Erwägen weiterer Überwachungsmaßnahmen mit "Blick auf die Gesamtheit der verschiedenen schon vorhandenen Datensammlungen" mit "größerer Zurückhaltung" zu agieren. Der Jurist Alexander Roßnagel, der jüngst das Amt des hessischen Datenschutzbeauftragten übernahm, forderte daher, die Legislative müsse auf Basis "einer Gesamtbetrachtung aller verfügbaren staatlichen Überwachungsmaßnahmen die Verhältnismäßigkeit" der Belastungen bürgerlicher Freiheiten untersuchen.

Schon jetzt werde "bei der Prüfung neuer rechtlicher Befugnisse auch berücksichtigt", über welche Kompetenzen zum Datenerheben die jeweilige Sicherheitsbehörde verfüge und ob ein Nachjustieren "tatsächlich erforderlich und verhältnismäßig" sei, hält das Bundesinnenministerium (BMI) dagegen. "Grundrechtseinschränkende Gesetze dürfen nur erlassen werden, wenn sie zur Erreichung eines legitimen Regelungszwecks geeignet, erforderlich und angemessen sind."

Bei bestehenden Überwachungsgesetzen seien zudem vielfach schon spezielle periodische Berichtspflichten vorgesehen, die auch der laufenden, bei wesentlichen Normenwerken ohnehin vorgeschriebenen Evaluierung dienten, unterstreicht die Regierung. Dabei könne auch "der Frage nach unbeabsichtigten Nebenwirkungen sowie der Akzeptanz der Regelungen nachgegangen werden". Wenn eine ÜGR losgelöst von dieser bisherigen Dogmatik und Methodik des Verhältnismäßigkeitstests erfolgen sollte, sei zudem unklar, wie dies im Rahmen einer Grundrechtsprüfung operationalisiert werden könnte.

Domscheit-Berg wertet den Bescheid als "Schlag ins Gesicht der Demokratie". Das BMI verhöhne "die höchstrichterliche Rechtsprechung in Karlsruhe, die mehrfach Überwachungsgesetze der Bundesregierung kassiert hat". Es sei völlig inakzeptabel, dass die Exekutive es für ausreichend halte, wenn sie selbst darüber entscheide, "ob die kumulierte Überwachung möglicherweise Grenzen überschreitet". Es brauche endlich einen "vollumfänglichen Überblick über die Notwendigkeit und Effektivität staatlicher Grundrechtseingriffe, die Polizei und Geheimdienste tagtäglich durchführen".

Für die Linke ist damit "ein Moratorium für neue Überwachungsgesetze unabdingbar". Es gehöre laut dem BVerfG zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik, "dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf". Frech sei der Verweis auf Evaluationen, da eine solche etwa beim geplanten IT-Sicherheitsgesetz 2.0 unterblieben sei.

Auch die FDP-Fraktion fordert eine ÜGR "statt weiterer Einschränkungen der Bürgerrechte". Datenschützer unterstützten diesen Antrag bei einer Anhörung im Bundestag im Februar; Rechtswissenschaftler waren damals geteilter Meinung.

Das Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht arbeitet im Auftrag der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung bereits an einem Konzept, mit der sich eine ÜGR operationalisieren lassen soll. In einer ersten Bestandsaufnahme machten die Forscher mindestens 15 Kategorien anlasslos gespeicherter Massendaten aus. Ferner gebe es in der Wirtschaft ein großes Reservoir persönlicher Informationen für staatliche Zugriffe. Am Ende soll ein Überwachungsbarometer die Eingriffe in die Grundrechte transparent machen. Zuvor hatte die Organisation DigitalCourage eine Liste von Überwachungsmaßnahmen in Deutschland als Materialsammlung für eine ÜGR veröffentlicht.

(dwi)