Edit Policy: Streit um Impfstoff-Patente wird in Europa entschieden

Besonders Deutschland blockiert den sogenannten "TRIPS-Waiver", der die Impfstoffproduktion in ärmeren Ländern ermöglichen würde.

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(Bild: VideoFlow/Shutterstock.com)

Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Felix Reda
Inhaltsverzeichnis

Vor Kurzem hat die Soziologin und Technologie-Expertin Zeynep Tufekci in der New York Times den wahrscheinlichsten Ausgang der Coronavirus-Pandemie beschrieben. Trotz der Entwicklung mehrerer Impfstoffe in Rekordzeit sieht es danach aus, dass wir weltweit die Herdenimmunität erst erreichen werden, wenn sich große Teile der Bevölkerung infiziert haben – und die Pandemie weitere Millionen Tote gefordert hat.

Es ist erstaunlich, wie wenig Entrüstung die Prognose hierzulande erzeugt, dass die meisten Menschen außerhalb der Industrienationen wohl noch jahrelang auf ihre Impfung werden warten müssen. Wenn wir in Europa unsere Politik nicht ändern, wird für viele die Impfung zu spät kommen, sie werden sich zwischenzeitlich infizieren.

Kolumne: Edit Policy

(Bild: 

Volker Conradus, CC BY 4.0

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In der Kolumne Edit Policy kommentiert der ehemalige Europaabgeordnete Felix Reda Entwicklungen in der europäischen und globalen Digitalpolitik. Dabei möchte er aufzeigen, dass europäische und globale netzpolitische Entwicklungen veränderbar sind, und zum politischen Engagement anregen.

In den USA hat eine breit angelegte Kampagne mit zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Unterstützung US-Präsident Biden bewogen, einer Aussetzung von Immaterialgüterrechten auf COVID-19-Impfstoffe bei der Welthandelsorganisation zuzustimmen. Auch Japan, Kanada und Australien haben inzwischen ihre Blockadehaltung aufgegeben. Doch der Vorschlag für diesen sogenannten TRIPS-Waiver kann noch immer nicht verabschiedet werden, weil die EU – und allen voran Deutschland – dem Plan die Zustimmung verweigert.

Das Europaparlament hat bereits einen Kurswechsel gefordert, auch einzelne europäische Regierungen zeigen sich offen für den Vorschlag. Doch ohne die Zustimmung Merkels wird die EU ihre Position wohl nicht ändern. Die Zukunft des TRIPS-Waivers hängt also ganz maßgeblich von der Stimmung in Deutschland ab. Wird der Druck zu Hause zu groß, können es sich die Regierungsparteien mitten im Wahlkampf nicht leisten, der Impfstoff-Freigabe die Zustimmung zu verweigern.

Seit Südafrika und Indien Anfang Oktober 2020 den Antrag für den TRIPS-Waiver bei der Welthandelsorganisation eingereicht haben, hören wir von deutschen Politiker:innen die immer gleichen Rechtfertigungen für ihre Blockadehaltung. Allen voran: Das eigentliche Problem sei die Produktionskapazität, selbst wenn keine rechtlichen Hürden für Unternehmen bestünden, in die Impfstoffproduktion einzusteigen, würde es viel zu lange dauern, die Produktionsstätten dafür aufzubauen oder umzurüsten. In derselben Zeit, seit wir diese fruchtlose Debatte führen, hat Biontech in Marburg eine Fabrik vom Pharmaunternehmen Novartis gekauft, in der vorher keine Impfstoffe produziert wurden, und binnen sechs Monaten für die Produktion des mRNA-Impfstoffs fit gemacht.

Wer behauptet, derartige Technologietransfers in Entwicklungsländer seien unmöglich, sitzt einem Vorurteil auf, das sich bereits mehrfach als falsch herausgestellt hat. Sobald generische Versionen von Medikamenten gegen Hepatitis B und andere Infektionskrankheiten verfügbar waren, begannen Unternehmen in Staaten die Massenproduktion, denen vorher attestiert worden war, sie seien zu derart komplexen Produktionsprozessen gar nicht in der Lage.

Ein weiteres beliebtes Argument gegen den TRIPS-Waiver: Es gebe gar keine Anzeichen, dass Patente oder andere Immaterialgüterrechte die Impfstoffproduktion behinderten. Tatsächlich versuchen Unternehmen wie das kanadische Biolyse seit Monaten vergeblich eine Lizenz für die Herstellung von COVID-19-Impfstoffen zu bekommen. Wie hoch könnte die Produktion inzwischen sein, wenn die Welthandelsorganisation bereits vor acht Monaten dem TRIPS-Waiver zugestimmt hätte und unabhängige Drittunternehmen damit die Sicherheit gegeben hätte, dass Investitionen in den Aufbau von Produktionskapazitäten sich lohnen werden, weil sie in die Impfstoffproduktion einsteigen können? In der Zwischenzeit hätten Dutzende Fabriken wie das Biontech-Werk in Marburg an den Start gehen können.