Warum Entscheidungen nach Tagesform gefährlich sind

Ob im Gericht, in Schule oder Krankenhaus: Fachleute entscheiden oft nach Bauch. Ungerecht und teuer, sagt Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman.

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(Bild: Sigmund / Unsplash)

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Für gefälschte Schecks im zweistelligen Dollar-Bereich müssen Betrüger in den USA schon mal bis zu 15 Jahre einsitzen. Oder auch nur 30 Tage, je nach Richter. Und je nach Sachbearbeiter können Versicherungsprämien für vergleichbare Fälle um bis zu 55 Prozent auseinanderliegen. Bei Asylanträgen, Wirtschaftsprognosen, Patentzulassungen, Kreditvergaben und medizinischen Diagnosen finden sich ähnliche Phänomene.

Zum Teil lässt sich diese Streuung durch „Bias“ (Voreingenommenheit) erklären, etwa bei Richtern, die grundsätzlich besonders streng urteilen. Doch eine mindestens ebenso große Fehlerquelle sei „Noise“ (Rauschen), schreiben Daniel Kahneman, Olivier Sibony und Cass R. Sunstein – also die zufallsbedingte Schwankung ein und desselben Entscheiders je nach Tagesform.

„Organisationen weltweit halten Bias für etwas, gegen das man entschieden angehen sollte. Sie haben recht. Aber in Noise sehen sie nicht den gleichen Missstand. Das sollten sie aber“, schreiben die Autoren. In vielen Lebensbereichen machen sie ein „geradezu skandalöses Maß an Noise“ aus. Das Problem dabei: Noise ist schwerer zu entdecken als Bias. „Er wird nur dann sichtbar, wenn wir eine Gesamtheit ähnlicher Urteile betrachten.“

TR 6/2021

Als zentrale Ursache für Noise sehen Kahnemann und seine Co-Autoren die Selbstverliebtheit vieler Führungskräfte, insbesondere der hochrangigsten und erfahrensten. Sie vertrauen selbst dann noch ihrer „Intuition“ oder ihrem „Bauchgefühl“, wenn fehlende Daten eine zuverlässige Prognose objektiv unmöglich machen. Damit leugnen sie, so die Autoren, „stillschweigend die Existenz von Ungewissheit“.

Daniel Kahneman, Olivier Sibony, Cass R. Sunstein: Noise. Was unsere Entscheidungen verzerrt – und wie wir sie verbessern können. Siedler, 480 Seiten, 30 Euro (E-Book: 24,99 Euro)

Kahneman, Wirtschaftsnobelpreisträger von 2002, hat in seinem Bestseller Schnelles Denken, langsames Denken bereits vor zehn Jahren analysiert, wie fehleranfällig dieser intuitive Denkstil ist. Und so gehen viele Ratschläge für eine bessere „Entscheidungshygiene“ dahin, spontane Urteile durch Regeln und Algorithmen zu ersetzen. Schulaufsätze etwa ließen sich fairer beurteilen, wenn sie in eine Rangfolge gebracht würden: Aufsatz A ist besser als Aufsatz B, aber nicht so gut wie Aufsatz C. Und Vorstellungsgespräche sollten anhand eines strukturierten Leitfadens geführt werden, der genau die benötigten Daten zur Fachkompetenz oder zur Teamfähigkeit einholt. Am Ende braucht man nur noch Punkte zusammenzuzählen.

Solche „mechanischen“ Entscheidungen treffen allerdings oft auf Widerstand, weil Menschen sich gekränkt fühlen. Die Autoren halten dagegen: „Algorithmen sind weniger fehleranfällig als die menschliche Urteilsbildung. Wenn wir trotzdem eine intuitive Präferenz für Menschen haben, sollten wir unsere intuitiven Präferenzen gründlich überprüfen.“

Der Kampf gegen Noise ist stets mit Kosten verbunden, etwa in Form von aufwendigeren Prozessen. „Entscheidungshygiene ist von unschätzbarem Wert, aber zugleich eine undankbare Anstrengung“, schreibt das Autoren-Trio. Denn ähnlich wie beim Händewaschen wisse man nie genau, gegen welche Erreger beziehungsweise Fehler man sich dadurch geschützt habe: „Noise ist ein unsichtbarer Feind, gegen den man nur einen unsichtbaren Sieg erringen kann.“

(bsc)