Kistenpacken im Berliner Regierungsviertel

Über die Rolle der kleinen Parteien bei der Bundestagswahl, die Elefantenrunde 2015 und unsere Syrien-Berichterstattung. Die Telepolis-Wochenrückschau mit Ausblick

Liebe Leserinnen und Leser,

nach dieser Bundestagswahl lohnt sich vor allem der Blick auf die kleinen und kleinsten Parteien. Zunächst in der ersten Reihe: Hier liegt es vor allem an den Wahlgewinnern Bündnis 90/Die Grünen und FDP, die Weichen für eine künftige Regierungskoalition zu stellen. Denn ob "Ampel" oder "Jamaika" - beide Parteien werden sich höchstwahrscheinlich im ersten Post-Merkel-Kabinett wiederfinden.

Noch kurz vor der Wahl hatten die Grünen von Aktionen der Klimabewegung profitiert. Wie werden sich die teils radikalen Forderungen von Fridays for Future, Extinction Rebellion und selbst den gemäßigten Teilen der Umweltbewegung mit einem neoliberalen Koalitionspartner an zentralen Hebeln der Macht umsetzen lassen?

Diesen Fragen, die weit über die kommenden vier Jahre hinauswirken, werden wir uns bei Telepolis verstärkt widmen und den Blick über das parlamentarische und politische System hinaus erweitern. Den ersten Akteuren der Klimabewegung schließlich wird schon jetzt klar, dass Wahlen nur geringe Chancen auf einen Kurswechsel bringen.

Ein Opfer der Realpolitik wurde bei dieser Wahl auch die Linkspartei. Ihr ist es nicht gelungen, sich in einem auf die Kanzlerschaft zugeschnittenen Wahlkampf zu profilieren. Dass sich führende Linken-Vertreter zuletzt vermehrt als Helfer eines ersehnten rot-rot-grünen Bündnisses angeboten haben, war der Sache offenbar auch nicht dienlich.

Schnell auf dem Fokus geraten die "Anderen". Dabei hat die Protestpartei Die Basis mit fast einer vierten Million Erststimmen und knapp 630.000 Zweitstimmen ein beachtliches Ergebnis erzielt. Auch wenn die Corona-Politik mit all ihren Widersprüchen im Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt hat, schlägt sie sich damit im Ergebnis nieder. Die "Basis" erhält nun über den "Wählerstimmenanteil" und "Zuwendungsanteil" wohl hunderttausende Euro aus der Staatskasse. Ob es der Kleinpartei gelingt, damit zur etablierten Kraft zu werden, ist aber noch lange nicht ausgemacht, letzte Auftritte schürten zumindest Zweifel daran.

Wie bei der Elefantenrunde 2015

Das Verhalten des großen Wahlverlierers, der Union, wird auch uns bei Telepolis wohl nicht nur in dieser Woche beschäftigen. Hört man den ehemaligen Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU) dieser Tage, stellt sich ein Déjà-vu ein: Erinnern Sie sich noch an den skurrilen Auftritt von Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) in der Elefantenrunde 2005?

Beim entsprechenden Format in diesem Jahr ging es zwar gesitteter zu, die Arroganz der Macht, die den Christdemokraten offenbar glauben lässt, seiner Partei gehöre das Kanzleramt, scheint aber auch bei Laschet mehr als deutlich durch. Aber alles das ändert nichts: Die Umzugsunternehmen werden im Berliner Regierungsviertel in den kommenden Wochen alle Hände voll zu tun haben; nicht nur in den Gebäuden des Bundestags, sondern auch in Kanzleramt und Ministerien.

Obwohl die Bundestagswahl vieles dominiert, werfen wir in diesen Tagen auch den Blick auf die Lage in Russland nach der Duma-Wahl. Dort kommt es, wie Telepolis-Korrespondent Ulrich Heyden aus Moskau berichtet, zu anhaltenden Protesten gegen mutmaßliche Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung.

Auch auf diese Debatte kann und sollte man schauen, allerdings in Ruhe, mit Sachlichkeit und ohne erhobenen Zeigefinger. Denn auch in Berlin ist es zu erheblichen Problemen bei der Abstimmung gekommen: Stimmzettel wurden vertauscht, Wähler vor den Abstimmungslokalen stehengelassen oder gar abgewiesen. Einige Verfassungsrechtler bezeichnen die Abstimmung in der Bundeshauptstadt daher schon als "irreguläre Wahl", die Wahlleiterin Petra Michaelis wirkt deutlich überfordert.

Aus Island immerhin wurden solche Probleme und Vorwürfe nicht bekannt. Bei der Wahl dort setzte sich der skandinavische Trend zu Mitte-Links-Bündnissen erst einmal nicht fort. Stattdessen erfuhren zwei konservative Parteien Zuwachs, die mit den Linksgrünen eine Regierungskoalition bildeten, wie Telepolis-Autor Jens Mattern diese Woche berichtet: Sie wollen das Gesundheitssystem privatisieren und vermutlich auch die Ambitionen der Linksgrünen in Sachen Klima zurückfahren.

Syrien und journalistische Standards

Vor den Wahlen hatten wir über die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) und eine umstrittene Syrien-Ermittlung berichtet. Ein Bericht über einen Giftgaseinsatz im syrischen Douma Anfang April 2018 war nach Meinung ehemaliger OPCW-Mitarbeiter derart manipuliert worden, dass eine Verantwortung der syrischen Luftwaffe unter Baschar al-Assad wahrscheinlich erschien. Nun musste die britische BBC einen Bericht mit Vorwürfen gegen OPCW-Whistleblower teilweise revidieren.

Nachdem wir darüber berichtet haben, hinterfragten einzelne User die Glaubwürdigkeit einzelne Quellen, darunter einem Zusammenschluss von Wissenschaftlern und Diplomaten mit dem Namen Berlin Group 21. Dieses Bündnis sei unglaubwürdig, weil das Portal Bellingcat es kritisiert und überdies eine Telepolis-Publikation erwähnt hat. Dies zeige, dass sich Telepolis "auf deren Seite schlägt", so ein User. Mitnichten. Wir werden weiter über die mutmaßliche Manipulation zum Douma-Angriff berichten und dabei journalistischen Standards folgen. Bei der Quelle Belingcat steht das gerade bei diesem Thema in Zweifel.

Für Debatten sorgt weiterhin das Thema Gendern. Nachdem der Autor Daniele Dell’Agli sich in einem Gastbeitrag für Telepolis leidenschaftlich gegen den Gender-Trend ausgesprochen und einige beachtliche Beispiele angeführt hat, nahm sich unsere Telepolis-Kollegin Claudia Wangerin des Themas an und beschrieb die Bandbreite der Positionen. Vom ZDF, das Taliban als "Islamist*innen" bezeichnet, bis hin zur Augsburger Allgemeinen, die im Juli dieses Jahres erklärte, warum sie sowohl das generische Maskulinum als auch das Gendern mit Sonderzeichen vermeidet.

Bei Telepolis gehen wir mit dem Thema weiterhin pragmatisch um und benutzen die Doppelpunkt-Variante, wenn das von den Autorinnen und Autoren gewünscht ist; vor allem, weil diese Lösung barrierefrei ist, also auch von sogenannten Voice Readern erfasst werden kann. Damit ist das Thema für uns dann auch erledigt.

In diesem Sinne, bleiben Sie uns gewogen, Ihr

Harald Neuber