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Was war. Was wird.

Keine Atempause, Geschichte wird gemacht: Eine traurige Vorstellung, nicht nur in Moskau und Grosny. Freuen wir uns , während draußen der Sturm tobt, trotzdem auf das papierlose Büro, schlägt Hal Faber vor.

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Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Nein, dies wird keine Wochenschau ohne Links -- auch wenn Anlass genug wäre. Ich gedenke der Toten in Moskau, der Menschen, die bei der Beendigung der Geiselnahme ums Leben kamen. Mindestens 90 Geiseln und auch 50 Geiselnehmer kamen bei der Stürmung nach letzten Berichten wohl um; die Überlebenden kämpfen mit den Folgen des Giftgases, das die Alpha-Truppe, die Eliteeinheit der russischen Armee, eingesetzt hat. Diese russische Armee aber hat nicht nur das Geiseldrama beendet, sondern ihrer Regierung auch Anlass gegeben, aufs Neue das "große Russland" hochleben zu lassen, das mit seinen Feinden fertig werde, so gefährlich und stark sie auch sein mögen. Die Tschetschenen, Frauen, Männer und Kinder -- wohl kaum aber die Mitglieder von solchen Gruppen, wie sie die Geiselnahme in Moskau organisierten --, bekommen das seit vielen Jahren zu spüren. Putin aber faselt etwas über "internationalen Terrorismus" -- deutlicher Hinweis, dass die russische Regierung Unterstützung nicht nur von den USA einfordert beim Vorgehen in einem Konflikt, der durch das russische Militär und die Regierungen von Jelzin und Putin hausgemacht wurde.

*** Und doch, ich mache eine Wochenschau mit Links, während der Wind über die norddeutsche Tiefebene pfeift und die Blätter vor sich her treibt. Eigentlich bin ich ein glücklicher Mensch: Ich sitze im warmen Zimmer am Schreibtisch und die Fenster halten dicht und Tschetschenien ist weit weg. Gar nicht auszudenken, der Wind würde hereinpfeifen und all die Fetzen verwirbeln, die hier herumliegen. Bei mir hat sich das papierlose Büro noch nicht materialisiert, von dem das Time Magazine im Jahre 1991 behauptete, es würde ganz sicher im Jahre 2003 existieren. Dabei machte sich die Time über die Reliable Insurance Company lustig, die 1980 ihre Mitarbeiter auf ein hübsches Motto einschwor: "Paper-Free in 1983". Für ein paar Millionen Dollar ließ sich Reliance ein E-Mail-Programm schreiben, das niemand benutzte. Papierlos wurde man dabei nicht, nur illusionslos. Anders erging es Chester Carlson: Heute vor 65 Jahren ließ er sich die Technik des Fotokopierers patentieren, eine fesche Maschine, die jede Idee vom papierlosen Büro torpediert. Der Kopierer ist eine amerikanische Erfindung, die ohne deutsche Gründlichkeit nicht diesen Erfolg gehabt hätte. Zum Jubiläum des Tages daher auch ein ehrendes Klick auf den Augsburger Johann Dessauer, der beim Blättern in einer Kodak-Zeitschrift einen Hinweis auf Carlson fand und als erster den Wert des Patentes erkannte. Dessauer arbeitete bei der Firma Haloid, die sich nach dem eingekauften Patent in Xerox umbenannte. Diese Firma schaut gerade hoffnungsfroh auf das papierlose Jahr 2003. Dessauers Erfindung, die Xerox 914, gilt heute als erfolgreichstes Industrie-Produkt aller Zeiten -- noch vor dem PC.

*** Was wäre ein Blick auf Xerox ohne Fehlfarben? Xerox haben wir wohl, wenn auch indirekt, wohltönendere Wohltaten als das schlurfende Geräusch des Kopierers zu verdanken. Was wären die Frauenversteher, wie die Süddeutsche sie nannte, von der fast schon vergessenen und wieder auferstandenen Band Fehlfarben ohne den Job von Peter Hein. Nun steckt er knietief im Dispo: Zu alt, um jung zu sterben. "Anfangs habe ich gar nicht bemerkt, dass 'Es geht voran' als Hymne von allen möglichen Friedensbewegungen missbraucht wurde. Aber ich fand das dann ziemlich scheiße. Ich war ja nicht unbedingt Hausbesetzersympathisant. Und ich habe mich eben gewundert, wo da der Zusammenhang sein soll." Das unterscheidet Peter Hein, Frontmann der Fehlfarben, von anderen Rockmusikern -- und die Anmerkung sei gestattet, dass, bei aller Liebe, dann doch ein König von Deutschland angenehmer erscheint als Monarchie im Alltag. Gerüchte über Peter Heins Xerox-Tätigkeit übrigens gibt es diverse, vom Lagerarbeiter bis zum IT-Consultant reicht die Spanne, die Hein selbst immer wieder gerne um eine neue Variante bereichert. Die jüngste stammt aus einem Interview mit der Zeit: "Den Job habe ich immer noch. Seit über 25 Jahren. Eine sinnfreie Tätigkeit im EDV-Bereich. Es geht darum, die Zeit rumzubringen." Das ist nett gesagt, und möge all den eifrigen EDV-Engagierten, die sich in diversen Lagern von Microsoft bis Linux, von Intel bis AMD, von QSC bis Telekom, von vi bis Emacs gegenseitig auf den Wecker gehen, als Leitspruch für das weitere Rumbringen ihrer Zeit mit sinnfreien Tätigkeiten dienen. Wir dachten schon, das ist der Sieg? Von wegen: Keine Atempause, Geschichte wird gemacht. Es geht voran.

*** Wohin es geht, fragt man sich nicht nur in Moskau und Grosny. Ich sehe schon die Kommentare, die mich mit der einfachen, schon von Kindern kapierten Tatsache belehren wollen, dass das Web natürlich das papierlose Büro ist, das wir uns alle wünschen. Oder die darauf hinweisen, dass ein solches Büro nur mit Open Source möglich ist, weil andere Bürolösungen nur zum Versenden von Grußkarten taugen. Nicht zu vergessen die Apfelkrieger von Gugel, die wissen, was das beste Betriebssystem der Welt ist und daher mit anderen Computern rabiat umgehen. Sie sind unabänderlich. Manchmal ist man einfach im falschen Film.

*** Doch zurück zum papierlosen Büro und seinem ärgsten Feind, den heimtückischen Kopierer. Wie wir alle wissen, vernichtete diese Maschine die Buchindustrie. Nur in einigen Ländern wie Deutschland überlebte die alte Kulturtechnik des Bücherlesens, weil eine Kopier-Abgabe das Geschäft stützte. Noch bösartiger ist in dieser Hinsicht der von Xerox erfundene WIMP-Computer. Mit einem Klick macht er Kopien von Musikstücken und ruiniert die Musiker, bis sie verhungern müssen. Besonders schlimm ist dabei, dass bei den digitalen Räubereien alle mitmachen, selbst die US-Armee. Gegen diese unselige Tendenz stemmt sich Microsoft mit verschieden Methoden, etwa Palladium. Dafür wurde die Firma gerade mit dem deutschen Big Brother Award ausgezeichnet. In ihrer Begründung verlinkte die Jury mit einem Text, der in seiner ersten Fassung die von der Industrie angeführte "end-to-end solution" als Endlösung übersetzte und daraus schlussfolgerte, dass bestimmte Urheberrechtsprobleme wie die Juden ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen seien. Es ehrt den Verfasser, dass er seinen Fehler eingesehen und korrigiert hat. Manchmal ist der Vergleich, und sei es in einer Übersetzung, mit den Nationalsozialisten einfach nur billig und falsch. Es wäre zu wünschen, dass andere daraus lernen, die Microsoft Nazi-Methoden unterstellen. Die Firma mag für Mitbewerber unangenehm sein und möglicherweise unfair operieren, doch hat sie kein Vernichtungsprogramm von Menschen im Angebot.

*** Es gibt Leser, die bei der Erwähnung von Bobos sofort wegklicken. Halt! Ihnen möchte ich BooBoo vorstellen, der in einer faszinierenden Geschichte über die Blubberblase der Dotcom-Helden den Anreißer spielt. Heute sind wir ja soweit, dass VC-Kapitalisten sich bei der Beurteilung von IT-Firmen wie WiFi-Hacker verhalten. Dabei tut es dieser Wirtschaft bitter Not, frühzeitig für den Aufschwung zu sorgen. Sicher wird es die Jugend sein, die den Kaufrausch wieder aufleben lässt und nicht nur eBay Höhenflüge beschert. Ja, der Aufschwung kommt. Schon wehren sich die ersten Firmen mit Händen und Füßen und seltsamen PR-Meldungen gegen die harte Konkurrenz der Postbubbles.

*** Gar kein Bobo war Siegfrid Unseld, dessen Tod wir betrauern. Der, gelinde gesagt, robuste Chef des Suhrkamp-Verlags war mit den Publikationen seines Hauses unter denen, die eine ganze Generation, eine ganze Gesellschaft prägten. Adolf Muschg meinte, als er vom Tode Unselds erfuhr, habe er zum ersten Mal das Gefühl bekommen, nun sei das 20. Jahrhundert endgültig vorbei. Nun gut, ich weiß, de mortui nihil nisi bene, trotzdem: Es ist wohl auch das endgültige Ende des Systems des Deutschlands der 50er und 60er Jahre, gegen dessen Hintergrund sich Unselds Verlag mit seinem Programm erst so richtig abhob, da passte dann auch der Innerlichkeitsmystiker Hesse zum dialektischen Aufklärer Adorno. "Es ist eitel, etwas mit mehr zu erreichen, was mit weniger zu erreichen möglich ist." Bei aller aufklärerischer Literatur mag mit dem Tode Unselds jetzt erst das Ende der Adenauer-Ära gekommen sein, das Ende des postfaschistischen Patriarchen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Dafür lebte der Verlag von den Hesse-Büchern zu gut. Wie ein anderer Autor schrieb, den der Suhrkamp-Verlag den Deutschen näher brachte: Erst kommt das Fressen, dann die Moral.

Was wird.

Linux-Konferenzen gibt es mittlerweile auf der ganzen Welt. Die Form der Verbreitung ist es, die nicht zuletzt unter amerikanischen Politikern für Unruhe sorgt. Da mag es nützlich sein, auf eine Veranstaltung in Frankfurt/Main hinzuweisen, die das Thema ganz unsentimental unter ökonomischen Aspekten angeht. Natürlich gibt es auch Heißsporne, die lieber die kämpferische Seite von Linux beleuchten und liebend gerne die Novemberrevolution einläuten würden. So aber beginnt der November erst einmal mit einem revolutionären Kongress. Aus dem alten, trefflich von Seyfried einstmals karikierten "Proletarier aller Länder, Vereinigt Euch", ist ein Prod-users of the world unite! geworden.

So ändern sich die Zeiten und Themen, und das nicht nur in dieser kleinen Branche. Nehmen wir einmal den Reformationstag, der uns eine der ersten Urban Legends bescherte. Für sich genommen kann dieser Tag spaßiger als Halloween sein, das nunmehr auch in Deutschland gefeiert wird. Doch was hat Halloween eigentlich in Deutschland zu suchen? Werden wir von Kürbissen überrannt wie Australien mit Kamelen? Ist es ein klarer Fall unbedingter Solidarität? Nächste Woche sind wir alle schlauer. Sowieso. (Hal Faber) / (jk)