Analyse: Warum es nur eine Corona-Impfung für gesunde Fünf- bis Elfjährige gibt​

Bisher riet die Stiko nur Risikokindern zur Impfung. Jetzt soll eine Einzeldosis gesunde Altersgenossen ab Herbst schützen. Die Begründung wirft Fragen auf.​

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(Bild: FabrikaSimf/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler
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Die Ständige Impfkommission (Stiko) hat ihre Empfehlung für Kinder aktualisiert und rät nun auch für gesunde Fünf- bis Elfjährige zu einer Impfung gegen COVID-19. Das Gremium empfiehlt bevorzugt den BioNTech/Pfizer-Impfstoff Comirnaty, da es für ihn neben den Sicherheitsdaten aus den Zulassungsunterlagen auch solche aus Beobachtungsstudien gibt. Alternativ sei aber auch Modernas Spikevax-Impfstoff möglich.

Wer nun eine Ausweitung des Impfschemas von zwei Grundimpfungen mit Booster auf alle Kinder in dieser Altersgruppe gerechnet hatte, wurde allerdings enttäuscht. Stattdessen rät die Stiko (PDF) bisher ungeimpften gesunden Sprösslingen nur noch zu einer Impfdosis. Die Gründe für die geänderte Empfehlung klingen überraschend. Natürlich können sich fachliche Einschätzungen im Lichte neuer Daten ändern, das sollen sie bei ausreichender Beweislast sogar. Doch in diesem Fall werfen die Belege zumindest Fragen auf.

Bisher empfiehlt die Stiko für Fünf- bis Elfjährige nur bei Vorerkrankungen eine Immunisierung, also zwei Impfdosen plus Booster, oder dann, wenn sie Kontakt zu Menschen mit Vorerkrankungen haben, deren Risiko für schwere Coronaverläufe erhöht ist (zwei Dosen). Das bleibt unverändert. Überdies konnten nach ärztlicher Beratung auf Wunsch der Eltern auch Kinder ohne Vorerkrankungen doppelt geimpft werden. Das taten viele Eltern mangels ausdrücklicher Stiko-Empfehlung nicht und das ist nun nicht mehr empfohlen. Bisher sind etwa 22 Prozent der Fünf- bis Elfjährigen einmal gegen COVID-19 geimpft und 19,1 Prozent zweimal (Stand: 20. April).

Für eine allgemeine Empfehlung für die ganze Altersgruppe wollte die Stiko im Dezember angesichts seltener, aber ernster Nebenwirkungen wie Herzmuskel- und Herzbeutelentzündungen auf mehr Sicherheitsdaten aus dem Impfalltag nach den Zulassungsstudien warten. Sie wollte also – "auch in Anbetracht der sehr geringen Krankheitsschwere" – bei Kindern mehr Evidenz dafür gewinnen, dass die Gefahren selten genug sind. Das Warten war angesichts der sich gerade aufbauenden Omikron-Welle und wissenschaftlicher Erkenntnisse, dass eine Infektion selbst mit einem höheren Risiko für Herzmuskelentzündungen und auch für eine Reihe weiterer Organschäden einhergeht, für viele Eltern schwer.

Corona-Pandemie: Neue Varianten - Erkrankung - Impfung

Knapp sechs Monate später sei nun klar, dass ein impfbedingtes Risiko für eine Herzmuskelentzündung bei Fünf- bis Elfjährigen verschwindend gering und in einigen Ländern wie Deutschland noch gar nicht aufgetreten ist, sagte der Kinder- und Jugendarzt Martin Terhardt, der Mitglied der Stiko ist, in einem Pressebriefing des Science Media Centers. Nun sei "die Abwägung eine andere, das Ziel hat sich verändert".

Jetzt geht es vorrangig um die Vorsorge, "weil ein erneuter Anstieg von SARS-CoV-2-Infektionen im kommenden Herbst und Winter zu erwarten ist", schreibt das Gremium im neuesten Epidemiologischen Bulletin des Robert-Koch-Instituts. Durch die Impfung sollen die Kinder rechtzeitig bis zum Herbst "eine gute Basisimmunität aufbauen" und auch bei neuen Corona-Varianten von schweren Verläufen verschont bleiben, erklärte Terhardt.

Bei diesem Schwenk, der an sich sehr löblich klingt, hat sich allerdings auch die Messlatte für die wissenschaftlichen Belege verändert. Wo vorher selbst randomisierte Studien nicht genug Probanden erhielten, reichen der Stiko jetzt theoretische In-vitro-Daten, also solche aus dem Reagenzglas, als Begründung dafür, dass für eine gute Basisimmunität eine einzige Impfdosis von Comirnaty oder Spikevax reicht.

Warum aber nur eine Dosis? Weil die Stiko davon ausgeht, dass inzwischen fast alle Kinder dieser Alterskohorte schon einmal Corona hatten und Literaturdaten einer Kombination aus "Immunschutz durch Infektion plus Immunschutz durch Impfstoff" mehr neutralisierende Antikörper und damit einen besseren Schutz bescheinigten als beide Komponenten für sich.

Laut dem Gremium ist der Vorteil einer kurzfristigen zweiten Immunisierung mit demselben Impfstoff – beim gleichen Impfabstand von drei bis sechs Wochen wie bisher bei den Risikokindern – angesichts der hohen Genesenenrate praktisch zu vernachlässigen. Ein längerer Abstand wie in Großbritannien scheint keine Option zu sein.

Die Annahme der hohen Genesenenrate fußt darauf, dass bei den Meldedaten des Robert-Koch-Instituts über bisher 48,8 Prozent einer PCR-bestätigten Infektion bei Fünf- bis Elfjährigen mit einer fast doppelt so hohe Dunkelziffer zu rechnen sei, meinte Terhardt. Viele Wissenschaftler gingen davon aus, "dass wir eine Durchseuchung der Kinder von 70 bis 100 Prozent haben, bemerkt oder unbemerkt". Dass gerade die Stiko den Begriff "Durchseuchung" benutzt, ist unglücklich bis kontraproduktiv.

Und wie gut die sogenannte Hybridimmunität tatsächlich schützt, dürfte nicht abschließend klar sein. In der Fachliteratur wird zwar laut Terhardt teilweise auch bei Fünf- bis Elfjährigen ein Schutz durch Hybridimmunität gesehen. Doch das wurde eben nicht in den randomisierten klinischen Zulassungsstudien oder neueren Studien dieser Art in dieser Altersgruppe geprüft. Auch hier also eine geringere Rigorosität als zuvor. Zumal auch Kinder, die bisher nicht nachweislich erkrankt waren, nur eine Dosis erhalten sollen – in der Annahme, dass sie doch schon mal COVID-19 hatten oder eben im Falle einer Corona-Infektion eine Hybridimmunität aufbauen.

Nun klingt es zunächst vielversprechend, dass die Stiko immerhin zum Ausbau der Immunität als Zweitimpfung einen der neueren, noch nicht zugelassenen Impfstoffe gegen neue Coronavarianten ins Auge fasst – und das eben mit größerem Abstand. Denn laut Terhardt "nimmt die Impfeffektivität nach einem längeren Abstand zu".

Die endgültige Entscheidung darüber, "welche Impfstoffe das sein werden", sei aber erst im Spätsommer oder Herbst möglich. Denn es sei noch nicht absehbar, ob dann immer noch Omikron oder andere Varianten vorherrschen und wie wirksam die neuen Impfstoffe sind. Hinzu kommt auch noch die Einschränkung: "Ob wir sie wirklich brauchen werden". Sie ist aus zwei Gründen schwer nachvollziehbar. Will man wirklich im Herbst eine Vorhersage riskieren, dass im Winter keine neue Variante oder Subvariante aufkommen wird? Und wofür baut man dann die Basisimmunität per Einzeldosis auf?

Dass andere Länder wie die USA und Österreich unlängst Booster für Fünf- bis Elfjährige zugelassen haben, begründete Tim Niehues, Chefarzt des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin am Helios Klinikum Krefeld, mit unterschiedlichen Versorgungssystemen. Reinhard Berner, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin und externer Stiko-Sachverständiger, sprach von anderen epidemiologischen Situationen. Leider wurde nicht klar, wie die Unterschiede ins Gewicht fallen.

Währenddessen sollen sich Jugendliche und Erwachsene laut Stiko durchaus weiterhin boostern lassen. Eltern mit jüngeren Kindern dürften den Unterschied nicht verstehen. Es heißt wie so oft, man könne nicht wissen, wie es später kommt und dass Kinder ja nicht so schwer erkranken. Klar muss man die Sicherheitsuntersuchungen der neuen Studien abwarten.

Fallen sie aber positiv aus, sollte man dann die Kinder nicht so gut es eben geht für die meisten Eventualitäten rüsten und das Risiko für Infektionsfolgeschäden verringern? Diese hängen auch von der Erkrankungsschwere ab. Wird also letzteres durch zusätzliche Impfungen verhindert, ist schonmal einiges gewonnen. Trotz der überraschenden Empfehlung ist den Kindern zu wünschen, dass viele Eltern vom Impfangebot Gebrauch machen. (jle)