Klartext zur Mercedes S-Klasse: Nur das Beste, oder was?

Das Beste oder nichts - Mercedes wirbt selbstbewusst. Gemessen an den Rückschritten im Detail beim Topmodell S-Klasse eine tapfere Ansage. Ein Kommentar.

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Mercedes S-Klasse

(Bild: Mercedes)

Lesezeit: 18 Min.
Von
  • Detlef Grell
Inhaltsverzeichnis

Mercedes tönt selbstbewusst, das Beste oder nichts zu bieten. Das weckt Erwartungen, insbesondere dann, wenn man im Sortiment weit oben einsteigt. Die S-Klasse sollte, so vermeldete es der Hersteller stets, das beste Auto der Welt sein. In der aktuellen Generation drängt sich im Detail allerdings die Frage auf, für wen eigentlich.

Als die aktuelle Mercedes S-Klasse (W223) herauskam, hat mich meine erste Sitzprobe geradezu mit Entsetzen erfüllt: Luftausströmer von der Resterampe des VW Passat? Wo ist die Uhr? Was macht die Mittelkonsole aus der C-Klasse (Test) hier? Wo sind die mechanischen Schalter am Lenkrad hin? Wo die gediegenen Schalter zur Sitzeinstellung? Wenn man zuvor einen 20 Jahre alten Skoda Octavia, ein gutes Auto, bitte nicht missverstehen, gefahren hat, dann schwelgt und schwimmt man in der neuen S-Klasse in schierem Luxus und findet alles toll. Wenn man aber schon einen gut ausgestatteten Vorgänger besessen hat, dann beginnt man zu zweifeln. Auch deshalb hatte ich erwogen, es diesmal mit einer üppig ausgestatteten E-Klasse zu probieren. Aber die Hinterachslenkung, die wird es halt erst Ende 2023 in der neuen E-Klasse geben. Warum nichts Elektrisches? In meiner etwas abgelegenen Garage gibt es keinen Strom. Aber er ist beantragt.

Mercedes-Boss Ola Källenius möchte angeblich Luxus pur à la Louis Vuitton als oberste Direktive ausgeben. Weg mit der A-Klasse und hin zur nächsten Wahnsinns-Gewinnsteigerung. Aber kann das durch Kunden-Verarsche gelingen? Oder anders formuliert: Kann ich durch Kaputtsparen einer S-Klasse nachhaltig Premium-Kunden gewinnen? Bisher sagen die Zulassungszahlen: Ja, man kann. Ich sage: Nicht mehr lange. Jammern auf höchstem Niveau? Nein, ich denke, hier geht es schon um die Substanz. Lassen Sie mich das so überaus wichtige und vielbeschworene "Kauferlebnis" von Beginn an schildern.

Noch nie ist es mir so schwergefallen, für das nächste neue Auto die würdige Begeisterung aufzubringen. Das fing mit der absurden Längensteigerung der "kurzen" Version an: 5,18 m, also noch mal 6 cm mehr als beim Vorgänger, und breiter natürlich auch. Aus dem mühsamen Einfahren in meine nicht automatisch mitwachsende Garage drohte eine stets wiederkehrende Flugzeugträgerlandung zu werden. Wie verlängert man eine Fertig-Beton-Garage innen um 6 cm? Ich habe einen Garagenhersteller gefragt, ob er ein neues Tor etwas nach außen versetzt montieren könnte. Keine Chance. Ich fand aber einen einfachen Weg: Ein neuer Handgriff für 25 Euro, der 4 cm weniger in die Garage hineinragt. Passt grade so.

Haarscharf: Erst mit einem neuen Griff für das Garagentor passt die aktuelle S-Klasse in meine Garage.

(Bild: Detlef Grell)

Im Juni 2022 habe ich einen Mercedes S400 D bestellt, Lieferzieltermin viertes Quartal 2022. Dann erreichte mich eine alternativlose Vertragsänderung: Chip-Mangel, die per Fuß betätigbare Heckklappe entfällt. Sehr ärgerlich. Wo ist denn der Preisnachlass? Es gibt keinen, denn für dieses Extra wird kein Einzelpreis mehr gelistet, weil es in einem Paket steckt. Meine schüchterne Nachfrage, ob dann nicht vielleicht der Paketpreis gesenkt werden müsste? Was für eine absurde Idee! Ich hab dann die Vertragsänderung handgeschrieben ergänzt: "Die knappen Chips sollten doch den Premiumfahrzeugen vorbehalten sein. Ist die S-Klasse denn gar nicht mehr Premium?"

Sicherlich nicht deswegen, aber einen Monat später erreichte mich wieder eine Vertragsänderung – oh Wunder, die fußbetätigte Heckklappe war wieder dabei, der Lieferzeitpunkt von Mitte November aber um einen Monat verrutscht. Noch ein Wunder: Der Endpreis hatte sich um 120 Euro erhöht. Man hatte – trotz Vertragsabschluss im Juni – die Oktober-Preisliste zugrunde gelegt und wollte davon auch nicht abrücken. Zum Mitschreiben: Wir reden hier von einem Fahrzeug deutlich jenseits 100.000 Euro. Da schachert Mercedes ernsthaft um den Wert einer schnöden Fußmatte mit seinem Premium-Kunden?

Suchbild: Sie wollen rückwärts in die Garage, und die Piep-Piep-Pieps massakrieren das schöne Musikstück. Also Musik anhalten. Ha, geht gar nicht! Ach MBUX, du Sortiment der Halbheiten ...

(Bild: Detlef Grell)

Ich hatte Abholung in Sindelfingen bei Stuttgart vereinbart -- ich freue mich halt, wenn ich gleich eine schöne Strecke zum Kennenlernen meines neuen Autos fahren kann. Dann aber war klar, dass Mitte Dezember Schnee-Chaos in Stuttgart herrschen würde. Also hab ich die Lieferung nach Hannover beantragt. Ja, das sei machbar, würde aber wegen Logistik-Engpässen dann Januar oder Februar bedeuten.

Zu den Überführungskosten von 890 Euro wäre dann aber noch eine große Inspektion beim Vorgänger aufgelaufen, unter einem Tausender geht die eigentlich nie ab. Was solls, der Neue würde ja mit Winterreifen ausgeliefert werden. Also blieb es beim ursprünglichen Plan der Werksabholung: Auf nach Sindelfingen. Es gab mal wieder Schlüssel-Anhänger als Gimmick, diesmal kleine Schildchen, die man auf der Rückseite gravieren lassen konnte. Ich verzichtete aufs Gravieren, "weil man die Dinger dann so schlecht bei eBay verkaufen kann." Die junge Dame grinste freundlich zurück und meinte: "Das sagt mein Papa auch."

Zunächst mal wurden beide mitgebrachten USB-Sticks mit Musik, die im Vorgänger einwandfrei funktionierten, als "kein Gerät angeschlossen" abgelehnt. Ein Phänomen, das ich einfach nicht verstehe, denn das passiert nun schon bei der dritten Mercedes-Abholung, aber in keinem anderen Gerät, sei es Blu-Ray-Player oder AV-Receiver. Soll heißen: Mercedes, andere können das! Abhilfe hat übrigens das Löschen des Volumes (Windows-Datenträgerverwaltung) und Neuanlegen geschaffen. Und natürlich alles neu einspielen. Da ich sowas schon geahnt hatte, hab ich noch einen ordentlichen Musik-Vorrat ins Smartphone gepackt.

Mal mit Text, mal ohne. Wer weiß, wie man "mit Text" dauerhaft einstellt, möge mir Bescheid sagen.

(Bild: Detlef Grell)

Beim Fahren mit Distronic (Radar-Abstandsregeltempomat) bremste mich diese automatisch auf die aktuell erkannte Höchstgeschwindigkeit ein. Dagegen ist nichts zu sagen, aber es nervt, wenn das aufgrund falsch zugeordneter Schilder passiert. So hat die Distronic mich auf der linken Spur einer dreispurigen Autobahn zweimal auf 60 runterbremsen wollen, weil sie auf das Schild für die Abfahrt zur Raststätte reingefallen ist. Ein Meilenstein um den Hals des autonomen Fahrens ...

Bei erkennbar grundlosem Bremsen ist man bei selbst verursachten Auffahrunfällen übrigens nicht komplett ohne Mitschuld. Freuen Sie sich auf 2024: Dann müssen alle in der EU neu zugelassenen Fahrzeuge mit ISA, dem Intelligent Speed Assistant ausgerüstet sein. Auch wenn kein Tempomat da oder aktiv ist. Allerdings nimmt er dann nur Gas/Strom weg, bremst also nicht. Ich hätte dieses wundervolle Feature gern abgestellt, aber wie heißt es und wo finde ich es? Was hilft eine elektronisch durchsuchbare Bedienungsanleitung, wenn man das Zauberwort nicht kennt? Es lautet "Geschwindigkeitsanpassung"; habe ich zwei Tage später ergoogelt.

Auch wenn der Tank bei dieser Abholung halb voll war (sonst knapp 10 Liter), so ganz ohne schwäbische Sparsamkeit hat man mich nicht ziehen lassen: Das Sauwetter mit Schneematsch auf der Straße hatte viel Wischwasser verschlungen, sodass ich auf halber Strecke ein Fläschchen Wasch-Lotion zum üppigen Autobahnpreis erwerben durfte.

Premium alias Luxus wird ja gern mit dem Begriff "Wertigkeit" verknüpft. Übersetzt wird das meist mit "hochwertig". Wie erzeugt man "Wertigkeit"? Die Deppenversion benutzt dazu einfach die Preisliste und verknüpft jedes scheinbar günstige Extra mit weiteren, richtig teuren Extras als Voraussetzung. Das machen alle Hersteller ähnlich, und das will ich dem Daimler nicht zu sehr ankreiden. Bitter ist es dennoch, wenn man gleichzeitig in der Zeitung lesen kann, wie wahnsinnig gut Mercedes im vergangenen Jahr verdient hat. Ein Beispiel.

Als Fan gut klingender Musik von Pop bis Klassik hat es mir die "große Burmester" angetan. Das Burmester High-End 4D-Surround-Soundsystem kostet keineswegs nur die an sich schon heftigen 8098 Euro aus der Preisliste, sondern mit Panoramaschiebedach (dadurch gewinnt Burmester angeblich Einbauraum für Lautsprecher) für 1940 Euro plus Sonnenschutzpaket für 1178 Euro (warum?) und elektrisch einstellbare Fondsitze mit Memory-Funktion (hä?) für 1856 Euro insgesamt stolze 13072 Euro. Nein, das war es noch nicht. Wenn Sie den Internet-Konfigurator bemühen, dann bestellt der für Sie noch das Exklusiv-Paket für 6843 Euro dazu. Die gute Hifi-Anlage kostet also im Verbund mit allerlei weiterem Zeug 19.689 Euro. Jau, dafür kaufen vernünftige Menschen einen kompletten neuen Dacia Duster, weiß ich doch.

Rausschrauben, reinschrauben: Sieht cool aus, ist aber weitgehend sinnfrei.

(Bild: Detlef Grell)

Aber auch dieser Preis stimmt so nicht. Wenn nämlich der Verkäufer mit seinem Firmenrechner die Anlage konfiguriert, wird aus dem Exklusiv-Paket in Wahrheit nur das Leder Nappa verlangt, was lediglich 2261 Euro kostet. Sollte das die Marketing-Abteilung bei Mercedes kümmern? Ach was: Wen jucken denn bei so einem Auto 4600 versehentlich verbrannte Euro?

Mein Verkäufer ist übrigens an gar nichts Schuld, ganz im Gegenteil. Seine Corporate-Identity-konforme Contenance war beeindruckend – bei all den Ärgernissen für seinen Kunden, auf die er keinen Einfluss nehmen konnte. Ich schreibe das hier so explizit, weil man nach dem Kauf eines Neuwagens gern mal befragt wird, wie es denn so beim Händler ausgesehen hat. War der Verkäufer ordentlich gekleidet? Hat der Kaffee geschmeckt? War der Verkaufsraum ordentlich gefegt? Also alles Dinge, die irgendjemand in der Marketing-Abteilung für wesentlich wichtiger als das Produkt, geänderte Verträge nach neuer Preisliste oder 4600-Euro-Irrtümer im Konfigurator hält.

Fraglos wird ein Auto durch so eine Preis-Kombinatorik auch irgendwie hochwertiger. Oder doch nicht? Seit ich nicht mehr rauche, brauche ich kein Schiebedach mehr. Die Klimaanlage kann eh alles besser. Zumal ich das Dach eh nur bei Regen hinten hochgekippt benutzt habe – die einzige Methode gegen Ersticken ohne nass zu werden. Bei mir bleibt heute auch der Filzdeckel unter dem Glas zu -- der Wagen ist wirklich luftig genug, da brauche ich nicht noch ablenkende Sonnenstrahlen. Abgesehen davon verlagert so ein rund 40 kg (ok, ich hab es nicht ausgebaut und selbst gewogen) schweres Teil am höchsten Punkt des Autos den Schwerpunkt nach oben – der technophile Auto-Fan in mir will das nicht! Ich zumindest hätte lieber ein paar Ausbeulungen für Lautsprecher im Dachhimmel in Kauf genommen.

Das Leder Nappa -- ein gesteppter Alptraum, aber alternativlos, wenn man die maximale Ausbaustufe bei der Musikanlage bevorzugt. Ist natürlich Geschmackssache. Wer die Daunen-Steppjacken jüngster Bauart kennt und liebt, mag es ertragen. Ältere Semester wie mich erinnert das Rautenmuster an fürchterliche gesteppte Tagesdecken in grünlich-blauen Schlafzimmern der 1960er-Jahre.

Ausgerechnet Rautenmuster: Wer die große Burmester-Anlage haben will, muss wirklich leiden.

(Bild: Detlef Grell)

Es gelingt Mercedes sogar, einen eventuellen hochwertigen Eindruck durch ein besonderes Feature aktiv zu senken: Hinter dem pompösen Begriff "4D-Sound" verbergen sich nichts anderes als olle Shaker. Sie machen keinen Sound, sondern kribbeln am Hintern – länger als fünf Minuten erträgt man das nicht. Nein, die Dinger tun wirklich nichts anderes als zu vibrieren, sie steuern gar nichts zum Bass bei. Wahrscheinlich hat die Dinger jemand ins Auto befohlen, der ein stilechtes Kino-Erlebnis mit Rumms im Sessel haben wollte. Es wird aber als famoses Audio-Feature verkauft. Entschuldigung, Mercedes, aber: Euer 4D ist geradezu ein Frevel an Burmesters Audio-Philosophie und eine Frechheit gegenüber jedem Audio-Enthusiasten, der Geld in dieser Größenordnung in eine Anlage versenkt hat. Schätzen wir uns alle glücklich, dass man den Shaker-Quatsch abstellen kann.

Ganz zurück auf Anfang: Die unsäglichen Sparschweinereien mit dem Lenkrad. Das zu bemäkeln ist erfreulicherweise keine Marotte nur von mir, wie ich der Auto, Motor und Sport entnehmen durfte. Testpersonen bei VW sind ebenfalls zu dem Schluss gekommen, dass sie sich vor allem die Toucherei am Lenkrad wegwünschen. Gern brüsten sich die Hersteller damit, dass ihre Fahrzeuge in allen Regionen der Welt perfekt funktionieren müssen. So gehören auch harte Wintererprobungen angeblich zum Programm. Aber wohl nur bei wohlig geheiztem Innenraum.

Ich habe mein neues Auto aber in der Jahreszeit genauer kennengelernt, in der ich Handschuhe trage. Dann fängt man an, den gesamten Touch-Kram zu hassen. Ist das Wort "Touch" irgendwie mit "Tourette" verwandt? Wer derzeit mein Beifahrer sein muss, könnte auf die Idee kommen. Aber auch ohne Handschuhe: Was soll ich mit einem Tempomat-Einsteller, der rund jedes fünfte Mal nicht reagiert? Was Mist ist, wenn man so das Innerorts-Tempo unbemerkt überschreitet. Ein Einsteller, den man zudem weder im Hellen noch im Dunkeln ohne Hinzusehen bedienen kann? Ich könnte schwören, dass die kleinen Schalterchen im Lenkrad mal dazu gedacht waren, oft bemühte Funktionen bequem zu erreichen, ohne den Blick von der Fahrbahn abwenden zu müssen.