Eine S-Klasse kutschiert durch Stuttgarts Stau

Der Stau ist mein Wohnzimmer

Die Zukunft passiert entweder viel langsamer oder viel schneller, als man denkt. „Wo sind meine Jetpacks?“ denkt man noch und verpasst dabei den Tod der Audio-CD. Wie schnell kommen denn jetzt die Autonomobile?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 10 Kommentare lesen
Google baut jetzt eigene Autos. Bis die Knubbelkabinen in den Verkehr kommen, wird es allerdings noch dauern. Das hier ist heute Serienstand. 11 Bilder
Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Heute spreche ich zu Ihnen aus dem Inneren einer aktuellen S-Klasse im Stau Stuttgarts. Das Fahrzeug soll mein Zeitgefühl korrekt einstellen, wie es Alexander Mankowsky in seinen Extrapolationen in die Zukunft zu tun pflegt. Wie weit sind wir gekommen, beziehungsweise: Wie weit ist Mercedes gekommen in Sachen „Auto fährt allein“? Als Google dieser Tage ihr erstes eigenes Fahrzeug vorstellte statt der vorher verwendeten Umbauten, schien das für einige sehr plötzlich, obwohl doch klar sein musste, dass dieser Schritt bald kommen muss. Ein selbstfahrendes Auto fährt am sinnvollsten selbst, wenn es kein Lenkrad mehr gibt.

Es ist wie immer: Die einen geben sich der Illusion hin, dass sie ab Lebensalter 30 jede technische Entwicklung nicht mehr erleben werden, und wenn die Welle sie dann überrollt, ziehen sie sich in eine Phantasiewelt zurück, der mit Staatsmacht homoöpathische, künstliche Dosen von Realität eingehaucht werden muss (hallo, Musikindustrie, hallo Verlagswelt!). Die anderen schwafeln längst von der Singularität, obwohl wir noch nicht einmal mit Jetpacks (oder vollautomatischen Autos) zur Arbeit pendeln. Irgendwo dazwischen liegt eine belastbare Wahrheit. Um sich der zu nähern, müssen jedoch geliebte Vorurteile draußen bleiben vor der Tür zum Glockenturm „Zeitgefühl“.

Vorurteile gegen Daimler

Gegen Daimler hege ich so einige Vorurteile. Das ist neben der räumlichen Nähe der Hauptgrund, mich häufig mit diesem Konzern, seinen Mitarbeitern und seinen Produkten zu beschäftigen. Vorurteile sind besser als ihr Ruf: Sie enthalten meistens genügend Realität, dass sie zu sinnvollem Verhalten führen. Sonst hätte die Evolution sie gar nicht so prominent ausgebildet in unseren Hirnen. Ohne Vorurteile könnten wir keinerlei Handlungsvorbereitungen treffen. Nur das Verfallsdatum des Realitätsanteils in den viel komplexer gewordenen Vorurteilen ist heute deutlich früher als zu unseren Steppenzeiten. Sie sollten also häufiger neu geeicht werden. Wenn unser Verhalten sinnvoll sein soll, müssen die Vorurteile einigermaßen aktuell sein.

Deshalb stehe ich hier mit einem Mann, dessen Arbeit ich implizit immer wieder als „nervig“ bekrittelt habe: Clemens Belle, Entwickler für aktive Sicherheit und Assistenzsysteme bei Daimler in Sindelfingen. Herr Belle und Frau S-Klasse sollen mir helfen, die Taktfrequenz der Entwicklung zum echten Vollautomobil, das autonom fährt, einzuschätzen. Zunächst vermittelte Daimler mir das von vielen Kunden sehnlich erwartete Gefühl des Aufholens.