Wie ist es, Topspeed in Nardo zu fahren?

Der schnellste Kreisverkehr der Welt

Die Hochgeschwindigkeits-Teststrecke bei Nardo auf dem Hacken des italienischen Stiefels ist ein magischer Ort. Hier finden die härtesten Tests der Industrie statt. Wie ist es, den riesigen Kreisverkehr zu befahren?

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Von
  • Clemens Gleich
Inhaltsverzeichnis

Nardo, 12. Oktober 2012 – Der Tacho ist am Ende angelangt. Bei 298 km/h regelt die Kawasaki ZZR 1400 trocken ab, baut eine Gummiwand, gegen die sie immer wieder fährt. Die drei Grad kalte Luft ist bei dieser Anströmgeschwindigkeit fast ein Festkörper, reibt wie ein Hobel aus Eis über die für den Sommer ausgelegte Lederkombi. Neben mir verschwimmt die Leitplanke zu einem Strichmuster. Die endlos angespulte Kurve hat nach kürzester Zeit eine gefährlich hypnotische Wirkung. Ist das noch real? Es wirkt wie 3D-Grafik. Wenn eine der hier und heute häufigen krassen Windböen quer ankommt, weht sie das Motorrad fast auf die Distanz eines ausgestreckten Arms ans vernietete Metall. Zum Glück kann ich diese beunruhigenden Vorkommnisse im Nahbereich erst hinterher in der Aufzeichnung sehen, weil während der Fahrt die Schläge aus dem bei knapp 300 sehr unebenen Boden alles außer den Dingen ganz vorne im Sehtunnel unerkennbar verwackeln.

Unnachgiebige Physik

Nardo lässt seine Besucher erleben, wie kalt unnachgiebig die Physik ist. Zitternd unterm Heizpilz möchte ich sogar sagen: In Nardo ist sie besonders unnachgiebig – und besonders kalt. "Wir machen hier viele Tests", sagte Lamborghinis Testfahrer Max Venturi Jeremy Clarkson vor dessen Fahrt im Aventador dort. "Aber wir machen nicht allzu viele Höchstgeschwindigkeitstests, weil es sehr uneben ist. Man könnte dabei von einer Spur in die nächste katapultiert werden." Jeder, der schonmal 300 oder mehr km/h gefahren ist, weiß, wie knifflig der reine Geradeauslauf werden kann, wenn Störbedingungen von außen (Wind, Boden) oder innen (schlechte Servolenkung) dazukommen. Man stelle sich dasselbe nun auf diesem gigantischen Asphaltkreis vor, in dem jeder Wind im Lauf der Fahrt auch Seitenwind wird und dessen bei 50 km/h halbwegs glatter Boden bei 300 zur Rüttelpiste wird. Nardo gehört zu den ganz wenigen Orten auf der Welt, an denen die Hersteller wirklich realistische deutsche-Autobahn-Highspeed-Dauertests fahren können. Diese Chance nehmen viele von ihnen wahr, wie ein Gang durch die ... nennen wir sie "Boxengasse" ... zeigt: In Reihenbungalows stehen dort die Dépendancen der Großen: Lamborghini, Ferrari, McLaren, Mercedes-AMG, wer schnell will, testet hier. Porsche gefiel das Testgelände offenbar besonders gut, denn die AG hat das Gelände im April 2012 zu einem ungenannten, aber bestimmt ungeheuerlichen Betrag gekauft. Die Tochtergesellschaft "Porsche Engineering" vermietet weiterhin an die anderen Gelegenheits- und Stammkunden.

Das Gestüt

Auf dem Absatz des italienischen Stiefels ist nicht viel los. Die Hoteliers sind froh über die gute Kundschaft aus der Highspeed-Elite der Fahrzeugindustrie, denn die feiern trotz der gesellschaftlichen Angst um Klima und Ölfördermaximum immer noch Rekordeinnahmen, mit denen sie in großzügiger Freude umgehen. Es herrscht auf der "Pista di prova di Nardò" ohnehin eine sehr eigene, merkwürdige Stimmung, ja fast ein eigener Zeitgeist, der dem ähnelt, der bei uns zur Zeit des Kalten Krieges herrschte. Oligarchisch agierende Spieler verfügen mit öffentlich bedingungsloser Macht über das, was passiert. Wer da neugierig seine 21stes-Jahrhundert-Smartphone-Linse auf Dinge hält, die ihn nicht zu interessieren haben, kann im schlimmsten Fall ohnmächtig zusehen, wie diese Linse höchstoffiziell zu Glasbruch verarbeitet wird. Fotografen dürfen auf dem Quadratmeter stehen, der ihnen zugewiesen wird und auf keinem sonst. Überall stehen Men in Black wie aus dem Bilderbuch: Sonnenbrille, Headset, mittelprächtig sitzende Armani-Wäsche, Gesichtslähmung. Es würde auch nicht wundern, wenn die Betreiber Störsender aus NATO-Restbeständen aufbauten, um Funkverbindungen in diesen Arpanet-Nachfolger zu unterbinden, der gerade so beliebt zu sein scheint.