Fahrbericht Harley-Davidson Livewire

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Die 300 Millimeter-Doppelscheibenanlage mit radial montierten Vierkolben-Monoblocksätteln von Brembo ist von ausgezeichneter Qualität, hochwirksam, bestens dosierbar und gewisslich so gut wie frei von jeglichem Fading. Im Hintergrund lauert ein Bosch-Fahrsicherheitspaket mit allen Schikanen samt Kurven-ABS, dynamischer Schlupfregelung und vielerlei Funktionen mehr. Auf ähnlich hohem Niveau wie die Bremsanlage arbeiten die feine Upside-down-Gabel und das nicht minder hochwertige Federbein, beide aus dem renommierten Hause Showa.

Alle Parameter sind einstellbar, wobei wir mit der Grundeinstellung wunderbar zurechtgekommen sind. Für Einstellexperimente fehlte die Zeit; auch für das Konfigurieren individueller Fahrmodi reichte sie nicht. Die vier Stufen „Road“, „Sport“, „Rain“ und „Eco“ gefielen durch die Bank, sie geben unterschiedlich viel Leistung frei und rekuperieren auch verschieden stark. Zum Fahrmodus-Wechsel genügt ein einmaliger Knopfdruck – clever gemacht.

Alle Spielarten der Konnektivität

Durchaus bis zum Vorzeige-Status hat Harley auch das Bediensystem entwickelt. Es beherrscht nicht nur alle Spielarten der Konnektivität, sondern lässt sich auch mit überschaubarem geistigem Aufwand individuell einstellen und sein 4,3 Zoll-TFT-Display ausgezeichnet ablesen. Auch die sonstigen Bedienungselemente im Cockpit – Blinker mit Rückstellautomatik, Tempomat, Startprozedur – erfordern kein mehrsemestriges Studium. Extrem vielfältig zeigt sich die Livewire-App fürs Smartphone: Mit ihr kann man nicht nur sämtliche auf der zuletzt absolvierten Ausfahrt erlebten Fahrzustände reproduzieren, sondern auch zahlreiche Parameter am Fahrzeug verändern.

Die Funktionen der Livewire sind also hoch entwickelt. Aber sie zeigt auch Herz, genauer einen Herzschlag. Hat ihr Fahrer sie fürs Losfahren scharfgemacht, setzt ein zartes Pulsieren der Sitzfläche ein, das ins Gefühlszentrum des Fahrers zielt. „Meine Livewire lebt, und sie ist eine echte Harley“, lautet diese Botschaft. Das Fahrgeräusch, vom E-Motor, den Reifen und dem Zahnriemenantrieb großenteils vorgegeben, hat man in Milwaukee in Richtung „Düsenjet“ weiterentwickelt. Dass der Tiefflieger bei einem bösen Crash in Feuer und Rauch aufgeht wie schon so mancher Tesla, ist glücklicherweise nicht zu befürchten: 20 der 43 gebauten Prototypen sind am Ende ihrer primären Mission gegen harte Hindernisse geknallt worden; keine hat Feuer gefangen, versichert ein Harley-Entwickler.

Nur wenig Level-3-Ladepunkte

Die Achillesferse batterieelektrischer Fahrzeuge, das Laden, „dauert von null auf hundert Prozent an einer Gleichstrom-Schnellladesäule nur eine Stunde“, versichert Harley-Davidson. Lediglich 40 Minuten sollen für 80 Prozent Füllstand ausreichen. Stimmt vermutlich. Das Problem, zumindest in Deutschland, ist die (noch?) geringe Zahl an Level-3-Ladepunkten.

Sie finden sich, wenn überhaupt, entlang der Autobahnen und manchmal auch in Außenbereichen von Kommunalunternehmen. Eine Ausnahme stellt die Filiale Piding von Aldi-Süd nahe Berchtesgaden dar, ob es dort ein nettes Café für die relativ kurze Wartezeit gibt, entzieht sich allerdings unserer Kenntnis. Einen der zigtausend Level-2-Ladepunkte anzusteuern, die es in Deutschland mittlerweile gibt, bringt leider nicht mehr als das Andocken an einer x-beliebigen Schukosteckdose. Hier wie dort vergehen laut Hersteller 12,5 Stunden von null auf 100 Prozent. Pro Stunde fließt dann nur Strom für 21 Stadt-Kilometer.

Zielgruppengerechtes heimisches Schnarchladen

Insofern ist es nur folgerichtig, dass Harley-Davidson bessergestellte Städter als potenzielle Kunden ins Visier nimmt: Diese Klientel besitzt vermutlich ausnahmslos eine häusliche Garage, in der viele nicht mal eine sogenannte Wallbox montieren düften. Denn für städtische Ausflüge und einen Besuch bei Freunden in einem Vorort taugt die Livewire auch ohne dass man sich die geringsten Gedanken über den Stromvorrat machen müsste. Innerstädtisches Stop & Go beherrscht sie zudem gleich gut wie Beschleunigungs-Anfälle auf freier Strecke: Es gibt kein Schalten und kein Kuppeln, kein Konstantfahrruckeln und keine hitzeglühenden Schenkel an der Ampel. Dafür hat man ein offenes Ohr für den Ampel-Plausch mit der Sozia oder dem alten Harley-Kumpel, sofern der den Killschalter betätigt und so vorübergehend das von Harley inzwischen patentierten Bollern des Motors stilllegt.

Da das alles eine Frage der Einstellung und des Standpunkts ist, aber nur wenigen das elektrische Kradfahren bereits bekannt ist, gilt: Erst wenn man’s live probiert, weiß man, ob eine Livewire zu einem passt. Eine ausgiebige Probefahrt sei hiermit ausdrücklich empfohlen. (fpi)