Der sanfte Riese

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Berchtesgaden, 23. Februar 2016 – Offenbar kann den Kunden charakterstarker Premium-Alternativen wenig Besseres passieren, als dass Ihre Lieblingsmarke von asiatischen Investoren aufgekauft wird. Denn wie man an den Beispielen von Jaguar und Volvo sehen kann, führt der vermeintliche Untergang dazu, dass die Charakterköpfe und Enthusiasten in den Entwicklungsabteilungen endlich einmal die Autos bauen können, die sie sich vorstellen. Vorbei sind die Zeiten als man aus Kostengründen schweren Herzens B-Lösungen abliefern musste. Die Neuauflage des Volvo XC90 ist ein Beweis dafür, wie kooperativ und verständnisvoll der chinesische Riesenkonzern Geely mit seiner schwedischen Tochter umgeht. Herausgekommen ist dabei einer der stimmigsten Volvos seit Langem.

Die diesjährigen Volvo-Wintertesttage stehen ganz im Zeichen der seit Sommer 2015 in Deutschland erhältlichen Neuauflage des XC90. War dessen 2002 vorgestellter Vorgänger zu seiner Jugendzeit mal der meistverkaufte Volvo in Deutschland, wurde er so lange nahezu unverändert im Programm gelassen, dass ihm das kleinere und viel modernere Schwestermodell XC60 2008 sofort die Show stahl. Zur Ehrenrettung des „alten“ Mittelklasse-SUV gereicht aber wohl, dass der kompakte XC60 der erfolgreichste Volvo aller Zeiten ist, was er auch 2015 mit etwa 159.000 verkauften Einheiten bestätigte.
Auch der XC90 hat mit 7200 Bestellungen im Jahr 2015 einen sehr guten Start hingelegt und die Erwartungen von Volvo deutlich übertroffen.

Das Warten hat sich gelohnt

Der Nachfolger des ersten XC90 wurde so lange erwartet, dass man irgendwann aufgegeben hatte, ernsthaft mit ihm zu rechnen. Aber wie es aussieht, hat sich das Warten gelohnt. Schon rein äußerlich ist das Kunststück gelungen, einen Riesenklotz an Auto mit betont nüchterner Formensprache zu kombinieren und dabei ein elegant-unaufgeregtes Fahrzeug zu erhalten. Der XC90 bleibt damit wohl das einzige Fullsize-SUV, mit dem man sich ungeniert vor dem Montessori-Kindergarten sehen lassen kann. Zumal er auch rein technisch die totale Entspannung verfolgt.

Volvo setzt als einzige selbsternannte Premium-Marke ausschließlich auf Downsizing-Vierzylindermotoren und erreicht bei seiner Kernkompetenz Sicherheit wieder die Weltspitze. Letzteres dokumentiert der XC90 mit dem besten Euro-NCAP-Crashtestergebnis aller bisher getesteten Fahrzeuge. In der Rubrik Assistenzsysteme erhielt er als erstes Fahrzeug die volle Punktzahl. Wie es mein Freund, seines Zeichens erfolgreicher Rechtsanwalt und treuer XC90-Fahrer ausdrückte: „Ein Volvo ist das Premium-Fahrzeug für die intellektuelle Kundschaft, die sich nicht primär für Autos interessiert.“ Sollte man sich nämlich über Rundenzeiten, Ideallinie, Motorsound und gewonnene Ampelstarts definieren, gibt es geeignetere SUV.

Bequemer Langstreckengleiter

Wer dagegen Bequemlichkeit schätzt, der ist beim XC90 schon richtig. Auf den angenehm gepolsterten und ergonomisch konturierten Sitzen findet man schnell die passende Position für lange Distanzen. Das Interieur ist elegant und hochwertig. Es übersetzt mit seiner nüchternen, aber trotzdem gemütlichen Formensprache den Stil des Exterieurs sehr gut nach innen. Nur kleine Details wie z. B. etwas deplaziert wirkende Nähte und Wülste der Cockpitbelederung könnten chronisch Unzufriedene zum Meckern finden.

Gleich zwei Schritte nach vorne hat Volvo dagegen beim Infotainment gemacht. Während manche früher regelrecht Angst davor hatten, das Navigationssystem eines Volvo bedienen zu müssen, funktioniert der neue Touchscreen so wie ein modernes Tablet oder ein Smartphone: Wischen, Scrollen, Vergrößern und Verkleinern. Man kann die einzelnen Funktionen sogar so wie die Apps auf Consumer-Electronic-Geräten einzeln verschieben und so die Touchscreen-Oberfläche nach eigenen Wünschen konfigurieren. Die zum Teil in der Fachpresse geäußerte Kritik an verzögertem Ansprechverhalten und verschachtelter Menüführung konnte ich nicht nachvollziehen. Es war höchstens hin und wieder schwierig, eine Ebene zurückzuspringen. Mit der im aufpreispflichtigen virtuellen Kombiinstrument eingeblendeten Kartendarstellung und dem optional in die Windschutzscheibe projizierten Head-up-Display hat der Fahrer wirklich alles, was er braucht, im direkten Blickfeld.

Dazu passt eine Lenkung, die eindeutig den Komfort betont und trotzdem nicht zu indirekt ist. Auch das Fahrwerk unterstützt ein entspannt-bequemes Fahrverhalten, ohne dass man Angst vor engen Kehren haben muss. Allerdings kann das Volvo-Fahrwerk hier nichts besser als die Premium-Konkurrenz aus Stuttgart und München. Im direkten Vergleich ist vielleicht das ein oder andere Stuckern mehr zu spüren, das die Perfektionisten aus dem Süden vielleicht besser wegfiltern. Die optionale Luftfederung würde ich auf jeden Fall dazubestellen, weil sie den XC90 noch geschmeidiger macht. Außerdem ist es sehr praktisch, die Bodenfreiheit auf schlechten Wegen um 40 mm vergrößern zu können.

Bei der Fahrzeugübergabe habe ich gleich den T5 für mich reklamiert. Der neue Einstiegsbenziner interessiert mich besonders – wenn man ein 254-PS-SUV überhaupt als Einstiegsmodell bezeichnen kann. Könnte er die Alternative zum D5-Diesel mit 225 PS sein? Hätte ich mich besser vorbereitet, hätte sich mir diese Frage vielleicht gar nicht gestellt. Bass erstaunt stelle ich beim Preislistensurfen fest, dass der T5 etwa 1000 Euro teurer ist als der Diesel. Das verstehe ich nicht und wird die Verbreitung des T5 wohl limitieren.

Unerwartet schwacher Leistungseindruck

Zumal der Zweiliter-Turbo beim Fahren viel angestrengter wirkt als seinen 254 PS im Entferntesten adäquat erscheint. Wird der – optisch und haptisch etwas an Stanniolpapier erinnernde – Fahrmodi-Drehsteller auf „Sport“ gestellt und an der Einmündung in die Schnellstraße Kickdown gegeben, dann entspinnt sich ein Szenario konsequenter Unsouveränität. Erst kommt der XC90 nicht wirklich beeindruckend rasch vom Fleck. Und dann dreht der Turbomotor, nachdem die ganze Aktion eigentlich schon vorbei ist und wir uns in den fließenden Verkehr einsortiert haben, ebenso unvermittelt wie genervt blökend in die Nähe des Drehzahlbegrenzers. Mein Beifahrer sagt: „Das ist ja wie in einem 50-PS-Opel-Corsa.“ Das ist nicht nett – weder dem Volvo noch dem Opel gegenüber. Deshalb würde ich so weit auch wieder nicht gehen. Zumal sich ein anderer T5 auf dem Eishandling-Parcour solche Mätzchen gespart hat und deutlich souveräner anfühlte. Unter dem Strich bleibt jedoch der – vom Gesamtkonzept her durchaus stimmige – Eindruck, dass der XC90 insbesondere als T5 nicht gehetzt werden will.

Auch der Verbrauch dürfte der Raserei den Spaß nehmen. Ich verbrauchte bei flotter, aber nicht unvernünftiger Landstraßenfahrt bergauf und -ab auf engen, kurvigen Landstraßen um die 12 Liter/100 km. Und ich muss zugeben, dass ich das im Gegensatz zur ebenso maßlosen wie unrealistischen Umweltlobby für gar nicht mal so tragisch halte. Schließlich habe ich ein siebensitziges Fullsize-SUV unter dem Hintern. Das ändert jedoch nichts daran, dass auch ich lieber 1000 Euro weniger ausgeben und mit allerhöchstens neun Litern Diesel pro 100 km reisen würde.

Den ganzen Umweltsprech erholsam ignorieren

Bei der Topmotorisierung geht Volvo eigene Wege. Auch die reichsten und maßlosesten XC90-Interessenten sind jetzt auf vier Zylinder beschränkt. Für diese Klientel ist – übrigens in Zukunft in allen Fahrzeugreihen – der Plug-In-Hybrid vorgesehen. Im Falle des XC90 hört er auf den erholsam den ganzen Umweltsprech ignorierenden Namen „T8 Twin Engine“. Und ich konnte mich am zweiten Tag sowie bei der Rückreise nach München davon überzeugen, dass die Systemleistung von 407 PS und das maximale Drehmoment von 640 Nm aus dem XC90 tatsächlich ein ganz anderes Auto macht. So wirkt der große Volvo auf einmal in jeder Beziehung souverän. Der Hybrid-Antriebsstrang arbeitet unauffällig. Und auch vom Geräuschniveau her habe ich keinen einzigen Zylinder mehr vermisst.

Schön ist auch, dass man seiner Frau den Plug-In-Hybrid als umweltfreundliche Lösung mit knapp über zwei Litern Durchschnittsverbrauch im NEF-Zyklus verkaufen kann. Dass man im wahren Leben fast 13 Liter/100 km braucht, erhöht das männliche Gefühl, sich hin und wieder im Stillen was gönnen zu können. Und männliche Gefühle hat man zumindest dann immer nötig, wenn man die Aisin-Achtstufen-Wandlerautomatik über den neckischen Kristall-Stick von Orrefors, dem schwedischen Swarovski, bedient.

Der Hersteller kam für Kost, Logis und sämtliche Spritkosten auf.