Amerikanische Sporthilfe

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Köln, 9. März 2016 – Victorys Mutterkonzern Polaris ist in Nordamerika seit langem überaus erfolgreich als Hersteller von Snowmobilen und ATVs. Doch die Geschäftsführung warf immer wieder begehrliche Blicke auf den Motorradmarkt und gründete deshalb 1998 Victory Motorcycles. Der Start verlief holprig, den Motoren mangelte es an Zuverlässigkeit. Erst mit der Zeit bekam Victory die Probleme in den Griff und heute punkten Modelle wie die Magnum und die Gunner mit einem 1731-Kubikzentimeter großen, vibrationsarmen V2 und mächtig Schub aus dem Drehzahlkeller.

Polaris hatte 2011 ganz nebenbei auch noch die legendäre Marke Indian Motorcycles eingekauft. Wieviel Sinn es macht, zwei Marken unter einem Dach zu haben, die sehr ähnliche Modelle produzieren, mag dahin gestellt sein, aber Geld ist im Konzern offensichtlich genug vorhanden, denn jetzt nutzt Victory es, um nach diversen opulenten Schwergewichts-Cruisern mit der Octane eine neue 1200er-Linie einzuführen, nach der die Kunden angeblich lechzten: Einen Mittelgewicht-Cruiser mit sportlichem Touch.

Nashorn oder Rennpferd: Das Pikes-Peak-Projekt

Brandon Kraemer, Product Manager von Victory, möchte die Octane als moderne Interpretation des klassischen amerikanischen Muscle Bikes verstanden wissen. Um sie möglichst werbewirksam in Szene zu setzen, erteilte Victory Stardesigner Roland Sands den Auftrag zum „Project 156“. Der kalifornische Custom-Bike-Guru bekam den Auftrag, um den neuen 1200er-V2-Motor ein Rennmotorrad zu stricken, das im Sommer 2015 am berühmten Pikes-Peak-Rennen in Colorado teilnehmen sollte. Das Projekt verlief auch sehr vielversprechend, das Motorrad sah spektakulär aus und die Trainingszeiten waren vielversprechend, aber dann stürzte der Fahrer während des Bergrennens und musste aufgeben. Es tat dem Medienecho keinen Abbruch, die Fachwelt berichtete fleißig über das kommende Victory-Modell.

Nun sieht die Octane dem Pikes Peak-Renner etwa so ähnlich wie ein Nashorn einem Rennpferd. Das Heck mit dem Solositz in nur 658 Millimeter Höhe und dem nackten Kotflügel erinnert an die Harley-Davidson Softail Slim S, die Front mit der kleinen Cockpitverkleidung an die Harley-Davidson Street 750. Dazwischen ähnelt sie nicht ganz zufällig der Indian Scout, doch dazu kommen wir gleich noch. Für ihre hohe Leistung und die strengen Emissionsnormen benötigt der V2 eine Wasserkühlung. Doch daraus resultiert das Problem, den Kühler dezent verstecken zu müssen, denn bei Cruisern erwarten die Kunden, dass der Motor optisch so gut wie möglich in Szene gesetzt wird und ein großer Kühler trägt nicht gerade zur Verschönerung des Gesamtbilds bei. Victory geht das Problem mit einer großflächigen Kühlerverkleidung an, die Tarnung gelingt aber nur leidlich.

Die Octane soll das Sportmodell der Marke sein. Wobei ein sportlicher Cruiser noch lange kein Sportmotorrad ist. Das verhindern schon die weit vorne angebrachten Fußrasten, die den Piloten in eine für das schnelle Fahren ungeeignete Haltung zwingen. In Amerika, dem Land der strikten Speedlimits, geht es mehr um die rasante Beschleunigung beim Ampelstart, der Boulevard wird als Drag-Strip missbraucht.

Der Motor der Victory sieht dem der Indian Scout verdächtig ähnlich und in der Tat stammt der Antrieb von der Schwestermarke. Kraemer erklärt, dass 35 Prozent der Octane-Teile mit der Scout identisch sind. Immerhin bietet der Victory-Motor schärfere Nockenwelle, eine geringfügig höhere Verdichtung und zwei Millimeter mehr Bohrung. Der V2 mit 60 Grad Zylinderwinkel verfügt damit über 1179 Kubikzentimeter Hubraum. Maximal produziert der Motor 104 PS bei 8000/min und ein Drehmoment von 103 Nm bei 6000 /min. Damit übertrifft sie die 1731-Kubikzentimeter großen, luftgekühlten V2 der restlichen Victory-Modelle um 16 bzw. 18 PS. Klar, an ihr gewaltiges Drehmoment von 139 Nm reicht das kleinere Triebwerk nicht heran, aber dafür punktet die Octane beim Gewicht. 243 Kilogramm lässt der Hersteller verlauten. Das sind 59 Kilogramm weniger als die bisher leichteste Victory. Fahrdynamisch kann das einen gewaltigen Unterschied ausmachen.

Chrom macht nicht schneller

Für die Diät erhielt die Octane einen Verbund-Rahmen aus Leichtmetallguss mit offener Doppelschleife und Stahlrohr-Rückgrat, der jedoch von außen nicht sichtbar ist. Ob der mit dem Rahmen der Indian Scout übereinstimmt, lässt sich daher nicht mit Sicherheit sagen, dürfte aber wahrscheinlich sein. Der Octane-Antrieb wurde um acht Prozent kürzer übersetzt als die Scout, überbietet diese um zwei PS und vier Nm Drehmoment und gewichtsmäßig liegt sie immerhin zwölf Kilo unter der Indian. Letzteres liegt aber hauptsächlich am sachlich-nüchternen Design. Während die Scout mit geschwungener Retro-Optik das Auge verwöhnt, folgt die Octane einer kantigen und minimalistischen Linie. Der Tank erhielt deshalb Ecken und die kleine Cockpit-Verkleidung einen Knick. Die Octane verzichtet fast völlig auf Chrom, stattdessen kommt sie in schwarz und mattem „Super Steel Grey“, daher. Im Werbetext wird das mit dem Satz begründet: „Chrom macht nicht schneller“.

Cruisertypisch wird das Hinterrad über einen Zahnriemen angetrieben, eher moderat ist die Reifendimension von 160/70-17. Vorne rollt sie auf einem 18-Zoll-Gussrad mit nur einer einzelnen Bremsscheibe. Warum die Hersteller bei vielen Cruisern auf eine zweite Bremsscheibe verzichten, die einem kürzeren Bremsweg zu gute käme, bleibt ein Geheimnis. Geführt wird das Vorderrad von einer konventionellen Telegabel mit 41 Millimeter Durchmesser. Ihre Tauchrohre sind so ziemlich das einzig verchromte Teil an der Octane. Hinter der kleinen Cockpitverkleidung versteckt sich ein klassischer, analoger Tacho, darin ein winziges digitales Display für diverse Zusatzinformationen.

Victory streicht besonders die Handlichkeit des neuen Modells heraus, wie man es „bei noch keinem amerikanischen V-Twin erlebt hat.“ Vermutlich ist der Verfasser des Pressetextes noch nie eine Buell gefahren. 1565 Millimeter Radstand, 129,5 Millimeter Nachlauf und 61 Grad Lenkkopfwinkel stehen für die Octane zu Buche. Eine Harley-Davidson Sportster 1200 Custom unterbietet diese Werte jedoch mit 1500 Millimeter Radstand und 107 Millimeter Nachlauf, der Lenkkopfwinkel ist mit 60 Grad fast identisch. Von der Papierform her dürfte die Harley damit zumindest nicht weniger handlich sein, aber natürlich spielen hier noch eine Reihe anderer Faktoren eine Rolle wie zum Beispiel 25 Kilogramm mehr Gewicht, so dass für eine endgültige Klärung ein direkter Vergleich nötig wäre. Fakt ist jedoch, dass schon die Indian Scout für einen Cruiser eine recht passable Handlichkeit an den Tag legte, was für die Octane hoffen lässt.

Schräge Nummer

Wie wichtig Victory das sportliche Image ihrer jüngsten Kreation ist, zeigt die Tatsache, dass sie sogar den maximalen Schräglagen-Winkel von 32 Grad angeben. Für einen Cruiser ist das ein ganz ordentlicher Wert, allerdings schafft sogar eine popelige 125er Schräglagen von über 45 Grad, ohne dass irgendein Bauteil aufsetzt. Man sollte also nicht auf die verwegene Idee kommen, die Octane auf kurvigen europäischen Landstraßen sportlich fahren zu wollen. Immerhin verspricht Victory, dass die Octane den Spurt über die klassische Viertelmeile – die ist den Amis ganz wichtig – in unter zwölf Sekunden schafft. Das wiederum wäre für einen Cruiser sehr flott, auch wenn jedes moderne Sportmotorrad mit einem Liter Hubraum die Übung in weniger als zehn Sekunden absolviert.

Halten wir also fest, dass die neue Octane die PS-stärkste Victory bis dato ist und sie mit ihrer Handlichkeit überzeugen möchte. Außerdem soll es noch etliches Zubehör für das neue Modell geben, unter anderem einen Drag-Lenker, andere Fußrasten, einen Satz in der Druckstufe einstellbare Federbeine, Sport-Endschalldämpfer (was in den USA vor allem „laut“ bedeutet), ein kleiner Drehzahlmesser und – hurra – einen Soziussitz. Ab Ende März wird die Octane bei den dreißig deutschen Victory-Händlern stehen und sie wird 12.950 Euro auf dem Preisschild ausweisen. Das wäre 700 Euro unter der Indian Scout und 800 Euro über der Harley-Davidson Sportster 1200 Custom. Beide Konkurrenzmodelle punkten mit dem angesagten Retro-Design und vor allem mit einem berühmten Namen. Unter den Voraussetzungen wird die Octane es schwer haben, hierzulande viele Liebhaber zu finden.