Moto Morini baut sein Programm aus

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Als Moto Morini vor rund einem Jahr an die chinesische Zhongneng Vehicle Group verkauft wurde, prophezeiten einige Kritiker das baldige Ende der italienischen Traditionsmarke. Der 1937 gegründete Motorradhersteller aus Bologna (heutiger Firmensitz: Trivolzio südlich von Mailand) krebste schon seit vielen Jahren am Abgrund herum.

Moto Morini wurde 2004 nach 13 Jahren Dornröschenschlaf wiedererweckt, aber die Besitzer wechselten seitdem viermal und stellten sich oft ungeschickt an, so verkaufte ein Eigentümer die Modelle ab 2012 nur über das Internet, worauf die Produktion völlig einbrach. Danach übernahm 2015 der italienische Investor Autjann Moto Morini, schien aber nicht wirklich etwas mit Motorrädern anfangen zu können und verkaufte die Firma drei Jahre später für zehn Millionen Euro an die Chinesen. Zhongneng baute bislang in der Nähe von Shanghai nur Roller und kleine Motorräder, hatte also keinerlei Erfahrung mit großen Bikes.

Morini blieb in Italien

Doch die neuen Besitzer waren so klug, Morini nicht nach China zu verlegen und beließen den Standort in Italien, wo sie nicht nur alle 30 Mitarbeiter übernahmen, sondern auch gleich drei Modelle entwickeln ließen. Die neuen Bikes wurden auf der EICMA 2019 vorgestellt und erhielten Lob für ihr gelungenes Design, das Morini als „Modern Classic“ bezeichnet.

Auf Basis der ohnehin schon sehr gefälligen Milano 1200 mit dem bekannten V2-Motor schufen sie einen hübschen Scrambler. Vor allem aber zielt Moto Morini jetzt auf die heiß umkämpfte Mittelklasse mit der Seiemmezzo, zu deutsch: Sechseinhalb. Wer denkt da nicht an die legendäre, von 1973 bis 1983 produzierte 3 ½ mit ihrem V2-Motor oder die 9 ½, die von 2006 bis 2010 gebaut wurde. Dazu kommt die modern gestylte Reiseenduro X-Cape auf gleicher technischer Basis wie die 6 ½.

Der Zweizylinder ist ein guter Bekannter

Die beiden Mittelklasse-Bikes werden von einem 650er-Reihenzweizylinder angetrieben, der Kawasaki-Fahrern bekannt vorkommen dürfte. Es ist der in chinesischer Lizenz gebaute Klon des Kawasaki-Motors mit 650 Kubikzentimetern Hubraum, den auch die chinesische Marke CF Moto in den Modellen 650 NK und 650 GT einsetzt. Dort leistet er 61 PS bei 7500/min, also elf PS weniger als einst in der japanischen Vorfahrin ER-6, die es in Euro-3-Norm auf 72 PS bei 8500/min brachte. Der Kawasaki-Zweizylinder gilt als sehr ausgereift und zuverlässig. Die neue Moto Morini Seiemmezzo und die X-Cape mussten wohl für die ab 2020 vorgeschriebene Euro-5-Norm allerdings leicht gedrosselt werden. Um wie viel, gab Morini noch nicht bekannt.

Retro-Elemente, aber nicht übertrieben

Die Seiemmezzo positioniert sich im gleichen Segment wie die bereits sehr erfolgreiche Ducati 800 Scrambler und die in Italien sehr beliebte Benelli (mittlerweile ebenfalls im chinesischen Besitz) Leoncino 500 (Test). Die Moto Morini Seiemmezzo zeigt zwar einige Retro-Gestaltungselemente, übertreibt es aber nicht. Ein runder Scheinwerfer, ein breiter, hoch gekröpfter Enduro-Lenker und Drahtspeichenfelgen gehören dazu.

Ein Gitterrohrrahmen aus Stahl bildet das tragende Gerüst, der den wassergekühlten Reihenzweizylinder umschließt. Der Tank wirkt groß und kräftig, die Seitencover weisen eine glatte Fläche auf und die gesteppte Sitzbank mit LED-Rücklicht scheint beinahe frei zu schweben. Die Sitzhöhe fiel mit 825 Millimeter allerdings relativ hoch aus. Die hinteren Blinker befinden sich – einem aktuellen Trend folgend – am Kennzeichenhalter, der mittels eines Auslegers an der Hinterradnabe befestigt ist.

Positive Resonanz

Die Seiemmezzo verfügt über eine voll einstellbare Upside-down-Gabel und ein flach liegendes Feder-Dämpferbein, das sich in Vorspannung und Zugstufe einstellen lässt. Das Vorderrad wird mit zwei 320-mm-Bremsscheiben und schwimmend gelagerten Zweikolben-Bremszangen der spanischen Marke J.Juan verzögert. Das Naked Bike rollt vorne auf einem 19 Zoll und hinten auf einem 17 Zoll großen Rad. Die Reifen sind mit 110/80-19 bzw. 150/70-17 nicht übertrieben breit und versprechen so ein leichtes Handling in Kurven.

Im Cockpit ein fünf Zoll großes, farbiges TFT-Display, das Bediensystem lässt sich über Bluetooth mit dem Smartphone koppeln.

Die Bezeichnung Scrambler passt

Die Resonanz auf der EICMA und im Internet war durchweg positiv und, auch wenn Moto Morini noch keinen Preis für die Seiemmezzo genannt hat, könnte sie sich gut verkaufen, vorausgesetzt sie siedeln den Preis nicht zu hoch an.

Eine Basis, zwei unterschiedliche Modelle

Das zweite heiße Eisen in der Mittelklasse nennt Moto Morini X-Cape, ein kleines Wortspiel mit „escape“ wie „entkomme dem Alltag“. Die Reiseenduro scheint auf den ersten Blick kaum etwas mit der Seiemmezzo zu tun zu haben, und doch sind Motor, Rahmen, Auspuff, Schwinge, Felgen und Reifen identisch. Sie wirkt deshalb so anders, weil sie eine hoch aufragende Verkleidung bekam, einen großen Tank und eine breite Sitzbank mit soliden Haltegriffen für den Sozius. Tatsächlich vermutet man bei der X-Cape auch mehr Hubraum als 650 Kubikzentimeter wie seit über einem Jahrzehnt sehr erfolgreiche Suzuki V-Strom 650.

Längere Federwege für die Enduro

Natürlich sind die Federwege an der X-Cape länger als an der Seiemmezzo, vorn 160 statt 135 Millimeter und hinten 135 statt 125 Millimeter. Das ist für eine Enduro zwar immer noch nicht viel, aber dafür ist die Upside-down-Gabel voll einstellbar, das hintere Federbein in der Vorspannung und Zugstufe. In der Fahrwerksgeometrie differiert sie leicht im Vergleich zur Seiemmezzo: Der Lenkkopfwinkel steht mit 64,5 Grad um ein Grad steiler, der Nachlauf ist mit 120 Millimeter um zehn und der Radstand mit 1480 Millimeter um zwei Zentimeter länger. Über das Gewicht der X-Cape schweigt sich Moto Morini aus, es werden aber vermutlich um die 210 Kilogramm sein. Ihre Ausstattung ist zeitgemäß mit LED-Beleuchtung rundum, farbigem TFT-Display, manuell einstellbarem Windschild und aller Wahrscheinlichkeit nach auch mit verschiedenen Fahrmodi, wobei letzteres vom Hersteller noch nicht bestätigt wurde. Mit einem Produktionsstart der beiden Mittelklasse-Motorräder ist wohl erst Ende 2020 zu rechnen.

Der neue Star von Moto Morini

Der eigentliche Star es Moto Morini-Stands auf der EICMA war die Super Scrambler 1200. Sie greift auf den seit 2006 gebauten und stetig weiterentwickelten V2 zurück. Damals machte der Corsaro 1200 mit satten 140 PS und 123 Nm mächtig Dampf. Allerdings war die Corsaro für ihre schlagartig einsetzende und schwierig zu dosierende Gasannahme berüchtigt, was sich auch bei der später folgenden Einspritz-Version nicht änderte. Erst als die Leistung für die Corsaro 1200 ZT und Milano 1200 auf 116 PS zurückgenommen wurde, stellte sich Besserung ein. Nun ermöglichen ihre immer noch satten 108 Nm Drehmoment eine schaltfaule und entspannte Fahrweise. Es gab zwar bis 2016 schon mal eine Scrambler 1200 von Moto Morini, die aber mit dem neuen Modell nur noch den Namen und den überarbeiteten V2-Motor gemeinsam hat.

Immerhin kein Etikettenschwindel

Die Super Scrambler 1200 basiert auf der Milano 1200 und variiert das Thema zumindest optisch in Richtung Gelände. Sie bekam Drahtspeichenfelgen, Enduroreifen, eine gelochte Blende unterhalb der Sitzbank und zwei über dem Doppel-Endschalldämpfer. Ein höherer und breiterer Lenker sowie ein winziges Windschild zieren die Front oberhalb des runden LED-Scheinwerfers.

Die Federwege wurden jedoch nicht verlängert, womit sie auch nicht geländetauglicher als die Milano sein dürfte. Zumindest ist das kein Etikettenschwindel, denn Morini nennt sie nicht Enduro sondern Scrambler. Diese Vorläufer der Enduros in den 60er-Jahren waren ursprünglich auch nicht mehr als auf andere Reifen umgerüstete Straßenmaschinen mit hochgelegtem Auspuff.

Moto Morini gibt nur 202 Kilogramm Leergewicht an, was in Anbetracht der angeblichen 208 kg der Milano 1200 unwahrscheinlich klingt – die Scrambler-Variante müsste schon wegen der Drahtspeichenfelgen mehr wiegen als die Gussfelgen-Version. Für die Super Scrambler 1200 ruft Moto Morini 15.300 Euro auf. Ein ambitionierter Preis, wenn man bedenkt, dass es die nicht minder schöne Triumph Scrambler 1200 XC (Test) schon für 13.550 Euro gibt.