Motorrad des Jahres 2019

Seite 2: Retro-Guzzi mit wenig Alltagsnutzen

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Aber die Panigale V4 S ist für die Rennstrecke konstruiert und die Sitzposition erfordert ein erhebliches Maß an Leidensfähigkeit. Auch wenn sie sich auf der Landstraße noch ganz ordentlich schlug, war sie in der Innenstadt eine Zumutung, denn der fette Krümmer grillte das rechte Bein und im Leerlauf brüllte sie mit ohrenbetäubenden 107 Dezibel. Außerdem ist die Panigale V4 S mit 28.390 Euro wahrlich kein Sonderangebot. Also, wird auch sie in meinem persönlichen Ranking nicht zum „Bike des Jahres“.

Die Nostalgische

Im Frühsommer kam die Moto Guzzi V85 TT zum Testen und eroberte die Herzen. Eine bildschöne Reiseenduro im Stil der 80er Jahre, wobei der Motor war zwar gründlich überarbeitet, aber in seinen Grundzügen schon über ein halbes Jahrhundert alt ist. Der klassische, längs eingebaute V2 ist 853 Kubikzentimeter groß und leistet für Guzzi-Verhältnisse sagenhafte 80 PS. Mit dem knallrot lackierten Stahlrohrrahmen, der Upside-down-Gabel, dem fetten Tank und dem runden Doppelscheinwerfer machte sie optisch ungemein viel her.

Die V85 TT fuhr sich angenehm, erwies sich als komfortabel und sogar handlich, aber irgendwie hatte ich mir vom Antrieb mehr versprochen. Die Moto Guzzi leistete 80 Nm Drehmoment bei 5000/min. Das war zwar ganz ordentlich, aber die 241 Kilogramm Leergewicht machten dem Motor dann doch zu schaffen und der Kardanantrieb trug auch nicht gerade zur Dynamik bei. Das Getriebe krachte laut und, wenn man es eilig hatte, passierte es immer wieder, dass man auf der Suche nach mehr Leistung versehentlich in den roten Bereich drehte. Bei flotter Kurvenhatz verhinderte der große Tank den Versuch, nach vorne zu rücken, um mehr Gewicht auf das Vorderrad zu bringen. Guzzisti werden darüber nur die Achseln zucken und es als Charakter abtun. Trotzdem hätte die V85 TT das Motorrad des Jahres werden können, wenn Moto Guzzi den Preis nicht mit 12.300 Euro (für die Version mit Zweifarben-Lackierung) angesetzt hätte. Für die Summe gibt es kräftigere und ausgereiftere Modelle. Damit hatte auch die Guzzi keine Chance mehr.

Die Gefällige

Für den Titel suchte ich also ein Motorrad, das nicht nur von der Optik her gefiel, sondern auch durch einen gelungenen Motor und ein gut funktionierendes Fahrwerk bestach. Ein Bike, das etwas außergewöhnlich und doch absolut alltagstauglich war. Wie die Triumph Speed Twin (Test). Die Britin präsentierte sich mir im Spätsommer im schicken Retro-Look, ohne dabei zu übertreiben. Sie sah aus, wie den Siebziger Jahren entsprungen, hielt aber so ziemlich alle elektronischen Assistenzsysteme parat. Ihr mächtiger 1200er-Reihenzweizylinder schüttelte seine Kraft locker aus dem Ärmel und beeindruckte mit satten 112 Nm Drehmoment schon bei knapp unter 5000/min. Die Speed Twin drückte bereits gewaltig aus dem Drehzahlkeller an, konnte aber auch ohne zu Ruckeln im fünften Gang durch die Stadt flanieren. Viele liebevolle Details erfreuten das Auge und zudem erwies sich das Naked Bike als handlich, nicht zuletzt dank eines Leergewichts von 218 Kilogramm. Die Speed Twin verhielt sich stets mustergültig, erlaubte sich in keiner Kategorie gravierende Schwächen und war ein echter Hingucker. Auch beim Preis zeigte Triumph britisches Understatement und siedelte ihn mit 12.150 Euro nicht zu hoch an. Die Speed Twin war deshalb lange Zeit mein Favorit für den Titel „Bike des Jahres“.

Die Siegerin

Bis sie im Oktober noch auf der Ziellinie abgefangen wurde. Ausgerechnet von einem Motorrad, dem ich im Vorfeld sehr kritisch gegenübergestanden hatte: Die neue Yamaha Ténéré 700. Ich war immer ein Fan der ersten XT 600 Z Ténéré aus den 1980er Jahren gewesen. Sie war damals der Inbegriff der Reiseenduro wegen ihrer Robustheit, ihres geringen Gewichts, langer Federwege und des riesigen 30-Liter-Tanks. Im Laufe der Jahrzehnte mutierte die Ténéré jedoch zu einem schweren, kaum noch geländetauglichen und unansehnlichen Ladenhüter.