Schief liegen

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Schräg: die Sensorik

Ein Schräglagen-ABS braucht einen Druckmodulator, der eine hohe Regelgüte und geringes Pulsieren liefert. Den gibt es in der aktuellen neunten Generation bei Bosch. Das System braucht außerdem einen Schräglagen-Schätzer, den es ebenfalls seit 2010 gibt. Der Sensorcluster von Bosch bringt zwei zueinander orthogonale, mikromechanische Drehratensensoren zusammen mit einigen Beschleunigungssensoren auf einer Platine unter. Die Gyrometer messen die Gier- und die Rollrate, woraus sie die Schräglage gegen den Horizont errechnen, beziehungsweise gegen die Nullposition des aufrechten Fahrzeugs bei Geradeausfahrt. Den Sensorcluster gibt es ab der KTM 1190 Adventure in einer wesentlich kleineren, funktional leicht verbesserten Ausführung. Der Hauptgrund dafür, dass es das Kurven-ABS erst jetzt gibt: Die knifflige Software wurde nicht früher fertig. „Beim Bremsen haben wir am Vorderrad das Problem, dass es nur so weit gebremst werden darf, dass es wieder anläuft", erklärt Dr. Fevzi Yildirim, Projektleiter des MSC (Motorcycle Stability Control) bei Bosch. „Am Hinterrad ist es einfacher, da können wir positives Drehmoment aufbringen."

Auf der Bosch-Teststrecke Boxberg versuchten Tester, mit grobmotorischen Gewaltbremsungen in voller Schräglage eine Schwäche aufzudecken. Diese Schwäche gibt sich der Regelkreis jedoch nicht, denn die Bremse fährt in Kenntnis der Schräglage eine Bremsleistung an, die dort mit Sicherheitsabstand algorithmisch bekannt funktioniert. Zusätzlich zieht ein Servo die hintere Bremse zu, denn bei Kurvenfahrt kann durch den erhöhten Anpressdruck aus der Fliehkraft hinten mehr Bremskraft übertragen werden. Die Schwäche des Systems sind große Reibwertsprünge. Ein Ölfleck beim Bremsen kann zum Beispiel zum Abriss der Seitenführungskräfte führen, wenn das Rad nicht schnell genug wieder angeschleppt wird. "Die Grenzen der Physik bleiben eben bestehen", sagt Yildirim. "Das System macht es nur einfacher, sie auch zu nutzen."

Weiterhin wirbt Bosch damit, das Aufstellmoment beim Bremsen mit dem MSC reduzieren zu können. Diesen Claim sollten Kunden cum grano salis verstehen, denn einen teuren, aufwendigen Servo, der das von der Bremse eingeleitete Lenkmoment abstützt, gibt es 2014 natürlich noch nicht. Der Fahrer muss das am Vorderrad auftretende Lenkmoment weiterhin allein abstützen. Durch die sanfte Arbeitsweise des Systems mutet es ihm jedoch subjektiv geringer an. Objektiv geringer wird es zudem durch die verwendete Bremsleistung am Hinterrad. Und schließlich soll - ja - muss sich das Motorrad ohnehin mit jedem gebremsten Meter etwas aufstellen, um im Gleichgewicht zu bleiben. Daraus ergibt sich ein verringertes Aufstellmoment, das zwar „eher gefühlt" (Yildirim) ist, aber in der stets subjektiven Fahrpraxis genauso relevant ist wie der Unterschied von Traktionskontrollen mit Schräglagenmessgerät im Vergleich zu solchen ohne. Aprilias Ausführung in der RSV4 APRC mit dem Bosch-Sensorcluster sei hier als Referenz genannt. Sie ist der Tag zur Nacht der einfacheren Systeme, die ohne eine Ahnung der Schräglage arbeiten.

Lage: der Markt

Die weiteren Funktionen des MSC, die Traktionskontrolle, das Anti-Wheelie-System und so weiter, das sparen wir uns hier, weil diese Funktionen längst am Markt sind. Gefehlt hat eine sinnvolle Integration der Schräglagenkenntnis in den ABS-Regelvorgang. Im sicherheitsliebenden Deutschland gehört das MSC damit bestimmt zu den A-Kaufgründen der nächsten Motorradgenerationen. Interessenten sollten jedoch von den Testerfahrungen auf der Adventure nicht direkt auf die Funktionsqualität bei anderen Motorrädern schließen. Der vergleichsweise flache Lenkkopfwinkel des Krads zusammen mit den schmalen, nachgiebigen Reifen sorgt schon rein geometrisch für ein geringes Aufstellmoment. Das ist bei steilen Sporttourergabeln auf breiteren Reifen mit entsprechend sportlichen Karkassen anders. Dazu kommt: Ein ABS auf ein Fahrzeug abstimmen, erfordert außer hoher Sachkenntnis auch begnadete Entwicklungsfahrer. KTM tut sich hier sehr positiv hervor. Es ist jedoch möglich, aus demselben Grundsystem durch weniger kompetente Abstimmung eine signifikant schlechtere Funktion zu holen. Im Prinzip sage ich nur das, was eh immer gilt: Kein System ohne eigenen Test kaufen. (cgl)