20 Jahre TI: Grundstein für die "Datenautobahn" des Gesundheitswesens
Vor zwei Jahrzehnten überreichte das Industriekonsortium "Better IT for Health" die Rahmenarchitektur für die Gesundheitskarte. Der Beginn einer langen Reise.
Vor 20 Jahren überreichte das Industriekonsortium "Better IT for Health" der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) auf der CeBIT die "Rahmenarchitektur" zur Einführung der elektronischen Gesundheitskarte, die nach den Vorgaben des Sozialgesetzbuches V zum 1. Januar 2006 an den Start gehen sollte. Auf über 1000 Seiten wurde beschrieben, wie eine Infrastruktur – die Telematikinfrastruktur – aufgebaut sein könnte, in der Patienten, Ärzte und Apotheken sich authentifizieren und sicher Daten austauschen können.
Kosten von 1 Milliarde würden sich rentieren
Die "Rahmenarchitektur" wurde am 23. April 2004 im Rahmen einer gut besuchten Pressekonferenz auf der CeBIT der Gesundheitsministerin übergeben. Sie sorgte für Schlagzeilen, als Schmidt erklärte, dass die Gesundheitskarte bis zu einer Milliarde Euro einsparen könne. Zudem versicherte sie, dass der Zeitplan zum Start der Gesundheitskarte am 1. Januar 2006 eingehalten werden kann. Das wurde bezweifelt. Die c't befürchtete im Bericht über die CeBIT, dass das "gigantische IT-Projekt" ein ähnliches Debakel erleben könne wie die damals nicht funktionierende LKW-Maut.
Dokumente wie das Geschäftsprozessmodell zur Einführung der Gesundheitskarte von BIT4health (PDF) zur Rahmenarchitektur sind heute schwer zu finden. Das liegt vor allem daran, dass das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) im Jahr 2020 mit dem Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zusammengeführt wurde. Das DIMDI war seinerzeit ein wichtiger Akteur bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Es hatte im 2002 den Band "Materialien und Empfehlungen für eine nationale Telematikplattform" veröffentlicht, in dem erstmals die Rede davon war, dass eine solche Plattform Einsparungen in Höhe von 450 Millionen Euro pro Jahr mit sich bringen wird.
Mit der allgemein zugänglichen Veröffentlichung der Rahmenarchitektur leistete das DIMDI einen wichtigen Beitrag, wie in der IBM-Meldung zur Rahmenarchitektur deutlich: "Die Transparenz des gesamten Prozesses gewährleistet dabei das DIMDI, das alle Informationen zur Gesundheitskarte zeitnah im Internet veröffentlicht." Die Aufgabe als Informationsanker hat das BfArM nicht übernommen.
Dass IBM vor 20 Jahren auf der CeBIT eine Pressemeldung zur Rahmenarchitektur veröffentlichte, hat eine Vorgeschichte. In seiner Regierungserklärung hatte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 2003 festgestellt, dass die "Modernisierung der Kommunikationstechnologien im Gesundheitswesen" eine gewaltige Einspar-Reserve bilde, die ausgeschöpft werden müsse.
In dem neu bestallten Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung wurde noch im März eine Projektgruppe "Telematik & Gesundheitskarte" gebildet, die eine europaweite Ausschreibung startete, den Anforderungskatalog für ein System zu erstellen, das alle Akteure im Gesundheitswesen vernetzt.
Bit4Health zusammengesetzt aus IBM, SAP und weiteren
Das Konsortium "Better IT for Health" (BIT4health) gewann den Auftrag, gebildet von IBM (Projektleitung), SAP, ICW (heute X-tention), Orga Kartensysteme (heute Idemia) und dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO).
Betrachtet man die 1080 Seiten der Rahmenarchitektur im Abstand von 20 Jahren, so fällt auf, dass mehrfach von einer "zentralen Institution im Gesundheitswesen" die Rede ist, die die Architektur weiterentwickeln und zu einer "konkreten Lösungsarchitektur" fortschreiben soll. Zu diesem Zeitpunkt lag die Gründung der Gematik noch in weiter Ferne. "Die Rahmenarchitektur ist eine modellhafte, also eine vereinfachende Sicht auf ein komplexes Gesamtsystem", erklärte IBM damals.
Lob statt Hinweis auf Kosten
Doch selbst diese vereinfachende Sicht machte es sich sehr einfach, was den Datenschutz anbelangt. So wurde der Schutzbedarf der Primärsysteme, also der IT-Systeme in Praxen und Krankenhäusern, als "niedrig bis mittel" angesetzt, was die Ärzte wenig später heftig kritisierten. Noch auffälliger ist jedoch, dass in den Dokumenten jeder Hinweis auf die Kosten des großen IT-Projektes fehlt. Auch die CeBIT-Pressemeldung des Gesundheitsministeriums verliert kein Wort zu dem Thema Einsparungen im Gesundheitswesen. Die publikumswirksame Übergabe der Architektur sorgte für Schlagzeilen.
Stattdessen wurde ein Lob der Gesundheitskarte veröffentlicht: "Mit der elektronischen Gesundheitskarte stärken wir die Patientinnen und Patienten. Sie gewinnen damit die Entscheidungshoheit, ob zusätzliche Informationen auf ihrer neuen Chipkarte gespeichert werden sollen und sie können selber Informationen einsehen, die ihnen bislang nicht oder nicht so leicht zugänglich waren." Dabei lag frühzeitig eine vom Konsortialführer IBM angefertigte Planungsstudie vor, die von Investitionskosten zwischen 1 und 1,4 Milliarden Euro ausging.
Fristen und Einsparungen lassen auf sich warten
Unmittelbar nach der Vorstellung der Rahmenarchitektur setzten die Debatten darüber ein, wie viel durch die Telematikinfrastruktur eingespart werden kann und darüber, wie die Gesundheitskarte finanziert werden kann. Außerdem wurde schnell klar, dass der Zeitplan wackelt und der gesetzlich vorgeschriebene Start zum Januar 2006 nicht zu halten war.
Auch ein anderes Datum wurde bald verfehlt: Nach den Vorgaben des Gesundheitsministeriums sollten sich die Vertreter der Ärzte, Krankenkassen, Krankenhäuser und Apotheker zum 1. Oktober 2004 eine Vereinbarung zur Unterstützung der Rahmenarchitektur erzielen. Der Termin platzte, woraufhin allen Beteiligten eine Weisung durch das Ministerium drohte. In allerletzter Minute konnte man sich immerhin auf die in der Rahmenarchitektur geforderte zentrale Institution einigen: Die Gematik wurde gegründet.
Mit der Rahmenarchitektur begann auch die Debatte über den Nutzen der Telematikinfrastruktur für die Patienten. Angesichts der modellhaften, aber wenig detaillierten Gesamtarchitektur wurde sie zunächst an dem D2D-System (Doctor to Doctor) der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein geführt, das als PaDoc vom Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik entwickelt worden war.
Auf dem Jahresendkongress des Chaos Computer Clubs stellte der Informatiker Thomas Maus seine Sicherheitsanalyse von IT-Großprojekten der öffentlichen Hand vor, die riesige Sicherheitslücken offenlegte. Erst ein Jahr später, die Lösungsarchitektur war bereits übergeben, wurde die elektronische Gesundheitskarte samt geplanter Telematikinfrastruktur auf dem CCC-Kongress nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen. Auch die Rahmenarchitektur des bIT4health-Konsortiums bekam da ihr Fett weg, obwohl sich das Konsortium längst aufgelöst hatte.
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(mack)