22C3: Mehrklassengesellschaft durch Gesundheitskarte
Zwei Stunden Vortrag, eine Stunde Diskussion: die elektronische Gesundheitskarte mauserte sich zu einem Topthema des diesjährigen CCC-Kongresses.
Zwei Stunden Vortrag, eine Stunde Diskussion: die elektronische Gesundheitskarte mauserte sich zu einem Topthema des 22. Chaos Communication Congress (22C3). Im Berliner Congress Centrum wurde das virtuelle Kartenhaus namens Gesundheitstelematik vom IT-Berater Thomas Maus Stück für Stück auseinandergelegt. Dabei überzeugte Maus nicht nur durch seine Argumentationskette, bei der jeweils Gesundheitskarte, eRezept, Notfalldaten und Patientenakte auf Nutzen und Kosten hin bewertet wurden, sondern auch durch die penible Lektüre der Rahmenarchitektur. Auch seine Darstellung, wie die auf dem letztjährigen Kongress geäusserte Kritik an der Technik (in diesem Fall des D2D-Systems der kassenärzlichen Vereinigungen) mit juristischen Mitteln und falschen Behauptungen ausgebremst werdem sollte, erzeugte wahlweise Heiterkeit oder Verärgerung. Selbst Journalisten, die über den Vortrag berichteten, wurden Unterlassungserklärungen zugestellt. Auf alle Fälle machte der Rückblick deutlich, dass eine öffentliche Diskussion der elektronischen Gesundheitskarte von den Akteuren im Gesundheitswesen nicht erwünscht wird.
Dafür widmete sich der Kongress der Datenreisenden umso intensiver der Diskussion. Ein System, bei dem in den Worten der Rahmenarchitektur selbst sekundäre Bedrohungen (etwa die Kompromittierung einer Komponente) dazu führen könne, dass die gesamte Schadenshöhe nicht mehr zu begrenzen ist, müsste eigentlich intensiv von einer öffentlichen Debatte begleitet werden, so das abschließende Fazit der Diskussion. Im Detail versuchte der IT-Berater zu zeigen, welche Komponenten hinter der elektronischen Gesundheitskarte die enormen Kosten "reißen" könnte, die mit der Einführung der medizinischen Telematik auf die deutsche Gesellschaft zukommen. Die Schätzungen pendeln zwischen offiziell häufig genannten 1,4-1,6 Milliarden, 4 Milliarden Euro (Schätzung der Privatkassen) und eine Hochrechnung aus dem Modellprojekt Heilbronn, die auf exorbitante 6,9 Milliarden kommt.
Alles Summen, für die der zahlende Bürger zumindest einen handfesten Gegenwert in der ärztlichen Versorgung und der Lebensqualität erwartet. Thomas Maus sah Vorteile, die aber erst mit der frühestens 2012 geplanten Einführung der elektronischen Patientenakte und des Arztbriefes wirksam würden, wenn die auf fünf Jahre ausgelegten Systeme in der zweiten Generation ihre Kinderkrankheiten hinter sich hätten.
Für die anderen Anwendungen, vom eRezept über den Notfalldatensatz auf der Karte bis hin zur Medikamentendokumentation führte Maus überwiegend praktische Beispiele auf, warum die Sache nicht funktionieren kann: Der Arzt, der lege artis behandeln muss, kann sich nicht auf eine Dokumentation stützen, aus der der Patient möglicherweise kritische Medikamente gelöscht hat, der Sanitäter, der bei einem Busunfall die Gesundheitskarten der Verletzten sucht, statt die Bluttests zu machen, hat schon den Kampf gegen die Uhr verloren.
Der Vortrag des sichtlich engagierten IT-Experten hatte auch seine Schwächen. Besonders der Vergleich zwischen der DDR-Personenkennzahl und der kommenden, lebenslang gültigen deutschen Versicherungsnummer hatte einen populistischen Anstrich. Dagegen setzte Maus auch praktische Akzente, etwa ein Plädoyer für ein eRezept, das mit Barcode versehen ausgedruckt werden kann und nicht nur dem Apotheker bei seinen Streifzügen durch seine Regale hilfreich ist: "90% der Bevölkerung kann ein Papierrezept kontrollieren. Wie viele können das noch beim eRezept, wie viele werden das tun?" Maus bezeichnete den Hackertest, mit dem einzelne Komponenten der Gesundheitskarte geprüft werden sollen, als Akzeptanz-Marketing.
Insbesondere kritisierte er das Preisgeld von 50.000 Euro, dass Siegfried Jedamzik vom Praxisnetz Goin als Vorsitzender des Arbeitskreises der Testregionen angeregt hatte. Allein bei den anstehenden Feldversuchen im so genannten 10.000er Test könnten die Patientendaten Maus zufolge von profitorientierten Hackern für 1,5-2 Millionen Euro an die Pharmaindustrie verkauft werden. Dementsprechend forderte er eine öffentliche Diskussion der Mindestanforderungen an den Hackertest.
Sollte die elektronische Gesundheitskarte wie bisher von den zuständigen Akteuren im Gesundheitswesen durchgewinkt werden, so droht nach Maus eine Mehrklassengesellschaft, in der Menschen mit den Mitteln der IT bei mangelhafter Pseudonymisierung wie Leergut nach Weißglas, Braunglas und Grünglas sortiert werden. In der anschließenden einstündigen Debatte, die später noch lange auf den Gängen fortgesetzt wurde, überlegten Kongressteilnehmer vor allem, wie Ärzte über die Gefahren der Karte aufgeklärt werden können. Aktivistisch eingestellte Teilnehmer riefen dazu auf, künftig alle Daten auf den Karten zu löschen, die irgendwie löschbar sind und erinnerten an Aktionen, wie sie das Land 1987 bei der Einführung des maschinenlesbaren Personalausweises erlebt hatte.
Zum 22. Chaos Communication Congress (22C3) und zur Veranstaltung 21C3 im vergangenen Jahr:
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- 22C3: Hackern droht zunehmende Kriminalisierung
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- 22C3: Hackerethik-Hotline soll Massen-Cracks verhindern
- 22C3: Spaß am Gerät mit Xbox-Hacking, VoIPhreaking und Entschwörungstheorien
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- Blooover demonstriert schwere Sicherheitslücken bei Bluetooth-Handys
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- Nur das Chaos lebt
Zur elektronischen Gesundheitskarte und der Reform des Gesundheitswesens siehe auch:
- Elektronische Gesundheitskarte wird in acht Regionen getestet
- Kein Mangel an Modellregionen für die elektronische Gesundheitskarte
- Karten-Spezifikationen vollständig veröffentlicht
- Alle österreichischen Gesundheitskarten sind verteilt
- Medica: Rundumversorgt dank Bodynet
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- Elektronische Gesundheitskarte: Entschleunigung oder Beschleunigung?
- Österreichs Rechnungshof kritisiert Gesundheitskarte e-card
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- Elektronische Gesundheitskarte: 2006, 2008, 2010
- Schaar: Gesundheitskarte frühestens in 5 Jahren voll funktionsfähig
- Elektronische Gesundheitskarte auch in der Schweiz
- MedCAST: Nach der Gesundheitskarte ist vor der Gesundheitsakte
- Österreichische Gesundheitskarte verletzt den Datenschutz von Arbeitslosen
- Österreich beginnt mit der Auslieferung der e-card
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- Deutsche und österreichische Gesundheitskarte im Vergleich
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- Karten-Betriebsgesellschaft gegründet
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- Im Auge des Sturms
- Risikopatient, Die Gesundheitskarte, ein gigantisches IT-Projekt -- wird es zur "Maut II"?, c't 15/04, S. 94
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- Elektronische Gesundheitskarte soll eine Milliarde einsparen
(Detlef Borchers) / (thl)