Abgas-Skandal: Vor fünf Jahren bekam VW einen brisanten Brief

Seite 3: Neues Selbstvertrauen und "überehrgeizige Vorstände"

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Nun geht der Blick nach vorn. In diesen Tagen beginnt VW den Verkauf des ID.3 – erstes Modell einer neu entwickelten, elektrischen Reihe, die den Konzern in die Zukunft führen soll. Mindestens 33 Milliarden Euro fließen bis 2024 in den Ausbau des E-Auto-Angebots. Für die Digitalisierung werden ebenfalls Milliarden mobilisiert. Obschon Geld allein nicht alle Schwächen und Verzögerungen bei komplexen Systemen ausgleichen kann, wie der holprige Anlauf des Golf 8 gerade zeigte.

VW ID.3 - erste Ausfahrt (10 Bilder)

Der ID.3 soll ab Oktober ausgeliefert werden.
(Bild: VW)

Das Auftreten nach außen ist heute demonstrativ bescheidener. Profitgier und Selbstherrlichkeit kennzeichneten das "System Wolfsburg" lange für so manchen Beobachter. Einen Kulturwandel sollte bereits Winterkorns Nachfolger Matthias Müller in Angriff nehmen, mit eher durchwachsenem Erfolg. Der jetzige Chef Herbert Diess öffnet sich kommunikativ, immerhin gegenüber seinen Fans in den sozialen Netzwerken. Intern bleibt bisweilen jedoch einiges im Unreinen.

Viele Mitarbeiter waren von Diess' hochgesteckten Vorgaben irritiert, während sie sich mit dem Produktionsstress beim Kernmodell Golf allein gelassen fühlten. Betriebsratschef Bernd Osterloh schäumte: "Hier wollten überehrgeizige Vorstände zu schnell zu viel Technik in ein Fahrzeug stopfen." Im Aufsichtsrat kam es zwischen den beiden hart auf hart. Inzwischen wurden die Wogen – offiziell – geglättet.

An der juristischen Front kehrt zwar noch keine Ruhe ein. Doch manche Bereiche scheinen ansatzweise abgearbeitet. In den USA bekannte sich VW gegenüber der Regierung schuldig, einige Ermittlungen endeten sogar mit Haftstrafen für Manager. Die meisten Entschädigungen für Kunden, Händler und Behörden sind durch. Rund eine Viertelmillion Dieselfahrer bekamen auch hierzulande Schadenersatz, Einigungen mit 50.000 Einzelklägern werden in den nächsten Monaten erwartet.

Anders sieht es in Deutschland bei der strafrechtlichen Aufarbeitung aus. Den Vorwurf der Marktmanipulation – hier: einer verspäteten Mitteilung der Diesel-Risiken an die Finanzwelt – konnten Diess sowie der bei Krisenbeginn amtierende Finanz- und heutige Aufsichtsratschef Hans Dieter Pötsch formal aus der Welt schaffen, jedoch nur durch einen umstrittenen Deal mit der Staatsanwaltschaft Braunschweig. Über die gegen Winterkorn erhobene Anklage ist noch nicht entschieden.

Das weitaus größere Verfahren gegen den Ex-VW-Chef und vier weitere Führungskräfte soll dagegen bald anlaufen. Sie erwartet ein Prozess wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs mit vielen Tagen auf der Anklagebank. In den USA wurde gegen Winterkorn auch ein Haftbefehl erlassen. Davon unberührt sind die Gerichtsverfahren, in denen Anleger Schadenersatz von VW wegen Aktienkurs-Verlusten verlangen.

In Stuttgart gab es ebenso Ermittlungen. In München wird Ex-Audi-Chef Rupert Stadler und weiteren Angeklagten Betrug, Falschbeurkundung sowie strafbare Werbung zur Last gelegt. Wer wann was genau wusste über die Planung und Umsetzung, bleibt in vielen Punkten bis heute ungeklärt. Um den ominösen "Schadenstisch" am 27. Juli 2015, bei dem neben Winterkorn auch der damals neue VW-Markenchef Diess anwesend war, ranken sich allerlei Gerüchte und widersprüchliche Aussagen.

Eigene Verfahren in der Dieselaffäre in den USA will nun auch Daimler mit zwei Vergleichen in Milliardenhöhe beilegen. Ermittlungen laufen darüber hinaus bei Zulieferern wie Continental, der Konkurrent Bosch musste ein Bußgeld zahlen. Gegen BMW und Opel gibt es ebenfalls Dieselklagen von Kunden. Und auf europäischer Ebene bahnt sich ein Grundsatzstreit darüber an, ob Hersteller generell die Abgasreinigung innerhalb bestimmter Bereiche ("Temperaturfenster") drosseln dürfen.

Mit Corona und dem enormen Nachfrageausfall beherrscht nun eine ganz andere, womöglich noch gefährlichere Krise die Branche – ausgerechnet in einer Zeit, in der im schlimmsten Fall Hunderttausende Jobs schon wegen des Strukturwandels bedroht sind. Ob und wie gut es VW gelingen wird, sich in dieser Gemengelage mit den Diesel-Altlasten im Gepäck neu zu erfinden, werden wohl erst die nächsten Jahre zeigen.

(anw)