Bei Emissions-Stop: Erdtemperatur würde sich nach fünf Jahren stabilisieren

Entgegen älteren Klimamodellen geht der jüngste IPCC-Bericht davon aus, dass Klimaschutz deutlich schneller wirkt als gedacht.

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(Bild: nicostock/Shutterstock.com)

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Von
  • Hanns-J. Neubert
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Europa hat den heißesten Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen überstanden. An die 100.000 Menschen dürften der Hitze zum Opfer gefallen sein, so das EuroMOMO-Netzwerk zur Beobachtung von Sterblichkeitsentwicklungen. In Deutschland lag die Übersterblichkeit nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes bei 9.000. Corona habe dazu nur zu einem geringen Teil beigetragen.

Endzeitstimmung: Viele Menschen halten den endgültigen Klimakollaps inzwischen für unausweichlich und resignieren. Heißt es doch oft, dass die Erderwärmung noch über Jahrzehnte weiter steigen wird, selbst wenn alle menschlichen Klimagasemissionen völlig auf Null gefahren sind. Aber das ist falsch. Die Klimawissenschaft weiß es heute besser.

In den älteren Berichten des Weltklimarats IPCC gingen die Klimaforscher davon aus, dass die Erdtemperatur auch noch 30 bis 50 Jahre nach einem vollständigen Stopp der Klimagasemissionen weiter ansteigen würde.

Ihre Annahme beruhte jedoch auf relativ simplen Computermodellen, die davon ausgingen, dass allein die CO₂-Konzentration in der Atmosphäre die Erderwärmung steuert. Weil die Ozeane sehr langsam auf Temperaturänderungen reagieren, schien es plausibel, dass das globale Fieber auch nach dem Ende aller Emissionen weiter steigt. Denn das Weltmeer würde auch danach noch über lange Zeit weiter Wärme abgeben, hieß es.

Neuere Modelle sind da aber sehr viel genauer. Sie berücksichtigen viel stärker, dass die Meere ja auch Kohlenstoffsenken sind, genau wie Wälder und Moore. Zwar ist die steigende CO₂-Konzentration nach wie vor verantwortlich für steigende Temperaturen, aber die Landökosysteme und vor allem die Ozeane nehmen die Hälfte des emittierten CO₂ auf. Dadurch senken sie den CO₂-Gehalt in der Atmosphäre und damit den Strahlungsantrieb, was die spätere Nacherwärmung durch die Ozeane ausgleicht.

In einem Artikel in der Washington Post kramten Michael E. Mann und seine beiden Co-Autoren Mark Hertsgaard und Saleemul Huq diese bisher oft übersehene Revision der Klimawissenschaften hervor. Huq ist Direktor des Internationalen Zentrums für Klimawandel und Entwicklung in Dhaka, Bangladesch, Hertsgaard Umweltredakteur des US-Magazins The Nation, Mann ist einer der renommiertesten Klimaforscher und engagiertesten Warner vor den Auswirkungen des Klimawandels. Er berechnete 1998 das berühmte Hockeyschläger-Diagramm, das die Temperaturen der vergangenen tausend Jahre darstellt und deren plötzlichen Anstieg gegen Ende des 19. Jahrhunderts illustriert.

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Tief verborgen in den fast 4.000 Seiten des physikalischen Teils des sechsten IPCC-Reports vom August 2021 ist erwähnt, dass es beileibe keine 30 bis 50 Jahre dauert, bis sich die Auswirkungen eines sofortigen Emissionsstopps zeigen. Eine ähnliche Aussage enthielt auch bereits der Sonderbericht "Globale Erwärmung von 1,5 Grad Celsius" von 2018.

Drei bis fünf Jahre würde es nur dauern, bis sich die Erdtemperaturen stabilisieren, wenn die menschengemachten Treibhausgasemissionen vollständig gestoppt wären. Das ist der heutige Stand in den Klimawissenschaften.

Das heißt aber nicht, dass die Menschheit sich damit Zeit erkauft, um die Maßnahmen gegen die Klimaerwärmung aufschieben zu können. Denn diese gute Botschaft bedeutet nichts anderes, als dass die Erderwärmung zwar nach drei bis fünf Jahren aufhört, aber nicht, dass die Temperatur dann sinkt.

Eismassen und Ozeane reagieren nämlich nur sehr langsam auf globale Temperaturänderungen. Stagniert die weitere Erwärmung, wird der Meeresspiegel trotzdem weiter steigen und die Gletscher werden weiter schmelzen. Aber immerhin wäre damit Zeit gewonnen, um mit den bereits jetzt weltweit sichtbaren Klimafolgen besser umzugehen. Zum Beispiel, um Strategien zu entwicklen, damit die Menschen mit den Katastrophen leben und sich vor ihnen zu schützen lernen. Allein schon die 1,2-Grad-Welt, in der die Menschheit jetzt lebt, führt zu Wetterextremen, denen Millionen Menschen im globalen Süden schutzlos ausgeliefert sind. Wie den aktuellen Überschwemmungen, die seit Anfang Oktober 1,4 Millionen Menschen allein in Nigeria auf die Flucht treiben, während in Ostafrika die Felder unter einer nie dagewesenen Dürre verdorren.

"Das Wissen, dass 30 weitere Jahre Erhitzung keineswegs unausweichlich sind, kann grundlegend verändern, wie Menschen, Regierungen und Unternehmen auf die Klimakrise reagieren", sind die drei Autoren überzeugt. "Die Erkenntnis, dass wir unsere Zivilisation immer noch retten können, wenn wir nur schnell und entschlossen handeln, kann die lähmende psychologische Verzweiflung der Menschen vertreiben und sie stattdessen zum Mitmachen motivieren."

Falls Regierungen und Unternehmen jetzt sofort entschlossen handeln und dafür sorgen, dass sich die Erderwärmung bei um die 1,5 Grad einpendelt, könnte die Menschheit die Verwerfungen noch auf einen Bruchteil der Katastrophen begrenzen, die extreme Klimamodelle für Drei- oder gar Vier-Grad-Welten prognostizieren, so der Tenor des Artikels.

Dazu müsste der Treibhausgas-Ausstoß aber spätestens bis 2030 halbiert sein, also innerhalb der nächsten acht Jahre. Denn je länger es dauere, die Emissionen auf Null zu reduzieren, desto höher wird der Temperaturanstieg sein, den die Menschheit verkraften müsse.

"Wenn die Bürgerinnen und Bürger begreifen, dass die Lage nicht aussichtslos ist, können sie besser Druck auf die Politik ausüben, solche Veränderungen vorzunehmen", hoffen Mann, Hertsgaard und Huq.

(jle)